Literaturforum Karben e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 25. November 2021:
"Friedrich Hölderlin, ein Leseabend mit musikalischer Begleitung"
Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 - 22: 30 Uhr
Anwesende: ca. 40 Besucher
Mit einem anspruchsvollen, dem Lyriker Hölderlin gewidmeten Literaturabend hat
das Literaturforum Karben sein literarisches Programmjahr 2021 exzellent abgeschlossen.
Nach der Begrüßung der Besucher führt der erste Vorsitzende Dieter Körber ein in
Leben und Werk dieses "Genius unter den deutschen Literaten, dem Riesen unter den Lyrikern".
Dieter Körber weist auf das bewegte Leben Hölderlins hin, auf die Rätsel in seiner
Biografie, er betont, dass Hölderlin zu seiner Zeit wenig beachtet wurde, erst
das 20. Jahrhundert habe seine herausragende Bedeutung entdeckt.
Martina Riedel begleitet den Abend einfühlsam am Klavier mit stimmungsvoll
passenden Musik-titeln. Sie beginnt dann mit dem "Allegro a Moll von Georg A. Benda".
Hans Kärcher, der den Abend organisiert und das Programm gestaltet hatte übernahm
die Moderation und führte routiniert durchs Programm.
Er betont in seiner Moderation die herausragende Bedeutung der späten Hymnen
für die Rezeption Hölderlins.
Er gibt sodann die Bühne frei für Barbara Metz, die mit klaren und sehr verständlichen
Erläuterungen ein ganz neues Bild von hölderlinscher Dichtung entstehen lässt, begleitet
von Dieter Körber, der die Zuhörer durch einen gekonnten Vortrag die reife Klangfülle
dieser originellen, außergewöhnlichen Lyrik erleben lässt.
Die Hymnen, die inspiriert sind durch den griechischen Lyriker Pindar 522 bis 446 v.u.Z.,
unterscheiden sich in Qualität und Reife deutlich von den durch Schillers Vorbild
geprägten gereimten Gesängen der Jugendzeit.
Die Hymne "Wie wenn am Feiertage . . ." um die Jahrhundertwende verfasst, stellt
ein Novum dar und bildet den Anfang dieser zum dichterischen Gipfel führenden
Periode. "Wie wenn am Feiertage . . ." ist ein Gedicht über den Dichter und sein
Werk. Das Motiv aber, das sie von Anfang bis Ende durchzieht, ist der Doppelsphäre
von Natur und Mythos zugehörig, ein Motiv, aus dem sich alle Aussagen der Hymne
über Dichter und Dichtung ergeben, es ist der Blitz, das himmlische Feuer.
Erste Fassungen des Gedichts "Friedensfeier" sind um 1801 entstanden. Hölderlin
ist zu diesem Zeitpunkt wieder einmal aus Deutschland geflüchtet, und zwar in die
Schweiz, in die kleine Stadt Hauptwil, wo er als Hauslehrer arbeitet. Dort erfährt
er vom Friedensschluss zwischen Frankreich und Österreich (der Friede von Lunéville)-
eine Nachricht, die ihn tief beeindruckt und große Hoffnungen weckt, die er in der
Hymne Friedensfeier literarisch gestaltet.
Auf Einladung des Freundes Sinclair reist Hölderlin 1802 zum Reichstag nach Regensburg.
Dort "schließt Hölderlin .. nähere Bekanntschaft mit dem Landgrafen von Hessen-Homburg,
Friedrich Ludwig …, der den Dichter offensichtlich bei dieser Gelegenheit bittet, ihm
ein "religiöses Zeitgedicht" zu schreiben. Der Dichter Klopstock hatte die Anfrage
des Landgrafen mit Hinweis auf sein betagtes Alter abgelehnt. Hölderlin entspricht
dem Wunsch des Landgrafen mit der Hymne "Patmos". Sein Freund Sinclair überreicht
die Hymne dann am 30. Januar 1803 dem Landgraf zu dessen 55. Geburtstag.
Hölderlin entwickelt mit den biblischen Bezügen der Hymne seine ihm eigene poetische
Religiosität und die darin enthaltene und entfaltete Gotteserfahrung als Geisterfahrung,
also keineswegs eine pietistische Frömmigkeit oder eine amtskirchliche Rechtgläubigkeit.
Die Zeilen "…Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch … " dürften wohl die meist
zitierten Zeilen deutscher Lyrik sein. Die Gedichte stellen zweifellos den bedeutendsten
Beitrag Hölderlins zur deutschen Literatur dar. Sie wurden aber zu seinen Lebzeiten
nie gedruckt, und entwickelten ihren wahren Einfluss auf die deutsche Lyrik erst
nach ihrer Wiederentdeckung durch Norbert von Hellingrath und Rainer Maria Rilke
in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. In seiner Frankfurter Zeit von Ende
1795 bis September 1798 beendete Hölderlin seinen Briefroman "Hyperion". Zu der
Zeit war er Hauslehrer beim Frankfurter Bankier Gontard. Mit der Frau des Bankiers,
Susette, beginnt Hölderlin ein Liebesverhältnis, und als Hölderlins Romanfigur
"Diotima" ist sie in die Weltliteratur eingegangen.
Sehr eindringlich und der Sprachmelodie Hölderlins folgend liest Annette Wibowo
gefühlvoll diese wundervollen Verse mit denen Hölderlin seine in der realen Welt
nicht auszulebende Zuneigung und Liebe zu Susette Gontard schildert und dem Leser
eine "Parallelwelt" vorstellt, in welcher die Liebe zu Diotima, so wie die Liebe
zu Susette Gontard, in der Illusion verhaftet bleiben und keine Umsetzung in die
Realität eines gelebten Alltags erfahren.
Die Trennung von Diotima entwurzelt Hölderlin. Der Spiegel der Einheit zerbricht,
die Schwärze der Nacht, die Trauer und Trennung bedeutet machen Hölderlin klar,
dass diese Liebe wie eine gepflückte Blume war. Das ganze Referat atmet die große
Begeisterung, die Annette Wibowo für diesen Dichter empfindet und sie schließt mit den Worten:
"Danke Friedrich Hölderlin für dieses Geschenk."
Mit dem "Allegro Vivace in F-Dur von Muzio Clementi" lässt Martina Riedel die
Zuhörer noch ein wenig in dieser Liebe verweilen.
Almut Rose ist da reservierter- sie hat sich mit der Mutter-Sohn Beziehung
beschäftigt und bricht eine Lanze für die "Gokin". Hölderlin entstammte einem nicht
unvermögenden bürgerlichen Elternhaus. Sein Vater war Hofmeister am Dominikanerinnenkloster
in Lauffen am Neckar, verstarb aber schon, als Hölderlin 2 Jahre alt war. Seine Mutter
Johanna Christina heiratete 2 Jahre später ein zweites Mal, den Weinhändler und späteren
Bürgermeister von Nürtingen, Johann Christoph Gok, der verstarb, als Hölderlin 9 Jahre
alt war. Johanna Christiana Heyn wurde 1748 in eine wohlsituierte Pfarrerdynastie
hineingeboren. Mit 18 heiratete sie und mit dreißig Jahren war "die Gokin" zweifache
Witwe. In acht Jahren hatte sie sieben Kinder geboren, von denen drei überlebten.
Für ihren ältesten Sohn hatte die leidgeprüfte, aber geschäftstüchtige, pragmatische
Mutter das Pfarramt vorgesehen; sie wollte ihn versorgt wissen in einer Lebenswelt,
die ihr vertraut war.
Nicht weniger als 116 Briefe Hölderlins an seine Mutter sind erhalten geblieben.
Auch ein einziger der Mutter an den Dichter. Ihre Fragen und Anregungen ließen sich
aber aus seinen Antworten rekonstruieren.
Daraus ergibt sich ein komplexes Bild der Mutter: Sie war nicht nur "aufopfernd,
fürsorglich und liebend", sondern auch fordernd und materiell interessiert, ohne je
ihren Sohn als Dichter anerkannt zu haben. Dennoch hat Hölderlin nur eine Frau geliebt:
seine Mutter, deren Haltung ihn weitgehend geprägt hat, mit Folgen für seine Dichtung,
sowie für seine Beziehung zu Männern und Frauen.
Das Theologiestudium schließt er ab, aber Pfarrer will Hölderlin beim besten Willen
nicht werden; er weicht aus, indem er verschiedene Erzieherposten annimmt und seine
Mutter wieder und wieder vertröstet.
Die Jahre1793/94 beschreibt Hölderlin als seine glücklichsten. Durch die Vermittlung
Schillers bekommt er die Hauslehrerstelle bei Charlotte von Kalb. Deren Gesellschafterin
ist die zweiundzwanzigjährige Witwe Wilhelmine Marianne Kirms. Hölderlin ist vierundzwanzig
und Charlotte von Kalb dreiunddreißig Jahre alt. Umgeben von zwei geistvollen und
herausragenden Frauen konnte er sich menschlich und künstlerisch entfalten wie wohl
selten zuvor. Marianne Kirms wird schwanger (von ihm?) und muss das Haus verlassen.
Er geht mit nach Jena und zieht zu Sinclair, der ihn verehrt, flieht dann aber zu seiner Mutter.
1796 erhält er eine Hofmeisterstelle in Frankfurt im Haus des Bankiers Gontard, dessen
junge Frau Suzette seine große Liebe wird und die er als "Diotima" besingt. Die
Frankfurter Gesellschaft tuschelt, er wird vom Ehemann beim Techtelmechtel erwischt,
Suzette bittet ihn am 25. September 1798 sofort das Haus zu verlassen und er flieht
nach Homburg zu seinem Freund Sinclair. Zitate aus Briefen runden das Bild ab.
Auch Hölderlin war hin- und hergerissen zwischen Vaterlandsliebe und den misslichen
politischen Verhältnissen im Allgemeinen und seinem Württemberg im Speziellen. In
Hölderlins Briefroman "Hyperion" gibt es eine längere Passage, die als Hyperions
Schimpfrede auf die Deutschen berühmt geworden ist. Auf den ersten Blick ist das
schon starker Tobak, dieses Frust von der Seele schreiben, dieser Rache-Rundumschlag
gegen die Deutschen, die er im Grunde als dumpfe, geistlose Menschen, Barbaren eben,
charakterisiert, die sich ausschließlich ihrem Tagwerk widmen und sich darüber hinaus
für auch gar nichts interessieren, geschweige denn begeistern können, wie für Hölderlins
Idee eines republikanischen Auf- und Umbruchs wie in Frankreich 1789 geschehen.
Ingrid Axt liest Auszüge und trifft den Ton gut. Robert Axt zeigt anhand seiner Kommentare,
dass er sich intensiv mit Hölderlin auseinandergesetzt hat. War Hölderlin gar ein Seher,
der weit in die Zukunft blickte, das zerstörerische Potential in der deutschen Geschichte
vorausahnend? Der folgende Satz fällt da besonders auf: "denn wo einmal ein menschlich
Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck". Nachdenklich stimmt auch der nächste
Text zum Verhältnis des Dichters zum Vaterland, aber auf ganz andere Weise wie die
"Schimpfrede: Im altgriechischen Wortsinn sind Oden erhabene, feierliche Gesänge in
reimlosen Strophen. In einer solchen antiken Götterwelt war Hölderlin ja gewissermaßen
zuhause und so nutzte er ihre poetische Form als Vorbild für das, wenn man so will,
patriotische Gedicht "Tod fürs Vaterland", das Ingrid Axt sachlich ohne Pathos liest
und Robert Axt so kommentiert: Egal, ob sich das kämpferische Pathos nun gegen fremde
Eindringlinge oder gegen Tyrannen im eigenen Land richtete, es hat einen irritierenden,
verstörenden Inhalt angefangen mit "ich lieb zu fallen am Opferhügel" bis zu
"nicht einer ist zu viel gefallen". Bei solchen Zeilen kann schon ein kalter
Schauer über den Rücken laufen.
Sehr gut nimmt Martina Riedel mit der Fantasie in a - Moll von Mary Leaf die Stimmung auf.
Hölderlins Verhältnis zur Französischen Revolution hat sich Dieter Körber vorgenommen.
Er erläutert der Argumentation des französischen Gelehrten Pierre Bertauxs folgend die
Frage: "War Hölderlin Jakobiner und Anhänger der revolutionären Bewegungen in Württemberg
oder nicht?" Routiniert bietet Körber die Ausschnitte aus dem Empedokles dar und überzeugt
durch seinen engagierten Vortrag.
Nach der Pause schildert Hans Kärcher wie Hölderlin zu Fuß im Januar 1802 nach Bordeaux
wandert zu seiner letzten Hofmeisterstelle bei einem Weinhändler. Er kommt allerdings schon
im Juni auch zu Fuß und in schlechter seelischer Verfassung zurück nach Nürtingen. Sein
Freund Sinclair verschafft ihm eine Stelle als Hofbibliothekar beim Landgrafen von
Hessen-Homburg. Im Jahr 1805 wurde Sinclair auf Antrag des Kurfürsten Friedrich II.
von Württemberg verhaftet. Auch Hölderlin wurde in Homburg angeklagt, aber der
Homburger Arzt und Hof-Apotheker Müller attestierte seine geistige Zerrüttung.
Gegen seinen Willen wurde er am 11. September 1806 ins Autenriethsche Klinikum in
Tübingen eingeliefert. Am 3. Mai 1807 wird Hölderlin als unheilbar aus der Klinik
entlassen. Seine endgültige Bleibe fand er sodann bei dem Tischler "Ernst Zimmer"
im berühmten "Hölderlin-Turm" in Tübingen. Dort lebte er noch bis zu seinem Tod im
Jahre 1843, sechsunddreißig Jahre!
Es gibt aus dieser Zeit ergreifende Schilderungen eines jungen Absolventen des
Tübinger Stifts, "Wilhelm Waiblinger", der über vier Jahre hinweg Hölderlin regelmäßig
aufsuchte und auch mit ihm in der Umgebung spazieren ging. Hans Kärcher liest gut
ausgewählte Auszüge daraus vor.
"Autumn Leaves" von Jacques Prevert war wohl den meisten Besuchern bekannt und passte
gut zu Hölderlins eindrucksvollem Gedicht "Spaziergang", das Robert Axt interpretierte.
Auf den Spaziergängen, die Hölderlin im Umkreis des Turms, am Neckarufer in Tübingen
unternahm, versuchte er, die Brüche seiner ersten Lebenshälfte gedanklich zu verarbeiten.
Als "Die süße Ruhe im Wahnsinn" wurde das Gedicht von manchen seiner Zeitgenossen
apostrophiert. Vielleicht stifteten die schönen Zeilen des "Spaziergangs" wenigstens
für einige Zeit Ruhe zwischen seinen krankhaften Zuständen.
"Es ist ein Gedicht schön wie gemalt" schließt Robert Axt eindringlich und sichtlich
beeindruckt seine Ausführungen.
Unter dem Titel "Dichter in dürftiger Zeit" liefert Dr. Michael Rettinger mit Bravour
und Brillanz einen sehr anspruchsvollen Vortrag über Heideggers Haltung und Interpretationen
zu Hölderlin anhand der Elegie "Brod und Wein", die zu Hölderlins bekanntesten Gedichten
gehört. Der Beruf des Dichters, so Heidegger, ist es, die Spuren des Göttlichen zu
finden, um damit die Menschen für die Wende des Weltalters vorzubereiten.
Für Heidegger ist der Dichter ein Mensch, der in den Abgrund einer gottlosen Zeit
hineinblickt, ihn aushält und stark genug ist, die Spuren der alten Götter zu lesen
und, das heißt für Heidegger: Ohne es zu beschreiben, lichtet sich das Sein durch die
dichterische Sprache, es ist Ereignis.
Deshalb setzt sich der Philosoph Heidegger mit Dichtern so intensiv auseinander.
In Hölderlin sieht er einen "denkenden Dichter", der sich in seinem Werk auf die Spur
des Seins begibt. Heidegger rückt sich damit in die Nähe der Dichtung bzw. zieht die
Dichtung auf seine Seite, indem er in beiden - dem Philosophen wie dem Dichter -
Wahrheitssuchende erblickt.
Inwieweit sich Heidegger aber mit dem, was Hölderlin sagen wollte, wirklich
auseinandersetzt, oder ob es nicht eher heideggersches Gedankengut ist, das er
anhand hölderlinscher Gedichte erläutert, sei dahingestellt.
Als Beispiel für die neuere Rezeption Hölderlins liest Hans Kärcher Auszüge aus der
Dankesrede von Marcel Reich Ranicki, der 1987 von der Stadt Bad Homburg mit dem
Hölderlin-Preis geehrt wurde und seine Rede mit dem Satz begann: "Nein, ich liebe
ihn nicht, diesen Friedrich Hölderlin", aber auch die Neuartigkeit und hohe lyrische
Qualität mancher ausgewählten Gedichte lobte.
Mit den gemütvollen Klängen von "Petite fleur", einfühlsam gespielt von Martina Riedel
klingt der interessanten Abend aus.
Mit Dank verabschiedet Dieter Körber die Besucher und Mitwirkenden bei diesem
gelungenen Ausklang des Jahresprogramms 2021 des Literaturforums Karben.
Almut Rose