Literaturforum Karben e.V.


Bericht vom Literaturabend, am 28. Oktober 2021:


"Die Schweizer Ikonen, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt."

Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 - 22: 30 Uhr
Anwesende: ca. 50 Besucher


Der Vorsitzende des Literaturforums Karben Dieter Körber begrüßt die Besucher und übernimmt die Moderation des Programms. Martina Riedel beginnt das Programm mit Musik am Klavier mit "The Emerald Sea", von Timothy Brown.

In seiner Einführung ins Thema skizziert Dieter Körber das Verhältnis der beiden bedeutendsten Schweizer Schriftsteller. Die beiden hätten seit den fünfziger Jahren das Traum-Team der Schweizer Literatur werden können, wenn sie denn nur die Freunde hätten sein wollen, als die man sie in der Öffentlichkeit nur allzu gerne sah. Frisch brachte es 1961 in einem Fernseh-Interview auf die maliziöse Formel: "So sind wir eigentlich zwar Freunde, aber obendrein noch verflucht, Freunde zu sein." Sie waren ewige Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis, die Schwedische Akademie aber konnte sich zwischen den beiden nicht entscheiden. Max Frisch 1911 als Sohn eines Architekten in Zürich geboren beginnt nach dem Gymnasium ein Germanistikstudium, das er nach dem Tod des Vaters 1934 abbricht, um als freier Journalist Geld zu verdienen. 1936 wechselt er zur Architektur und gründet eine bürgerliche Familie. Nach einem Jahr in Amerika schreibt er seinen ersten Roman, der gleich ein Welterfolg wird. Das Motiv des Aufbruchs und des Ausbrechens aus gesellschaftlichen Ordnungen und aus der eigenen Lebensordnung bestimmt "Stiller". Nach einer Musikeinlage "Verträumt" von Nataliya Frenzel, gespielt am Klavier, von Martina Riedel, stellt

Almut Rose mit frischem Elan diesen Roman vor. Spannend wie in einem Krimi legen die Tagebuch-Aufzeichnungen von der Hauptfigur, in einem Untersuchungsgefängnis in Zürich geschrieben nur vorsichtig und schichtweise die wahren Hintergründe um das Verschwinden des lange verschollenen Stillers frei. Ein Mann namens White wird beim Grenzübertritt in die Schweiz verhaftet: Er wird für den verschollenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller gehalten, der Mittelsmann eines Attentats gewesen sein soll. Am Ende stellt das Gericht eindeutig fest, dass es sich bei dem Inhaftierten nicht um den Amerikaner White, sondern um Stiller handelt, der allerdings nicht an dem Attentat beteiligt war. Stiller findet sich mit dem Urteil ab und zieht mit seiner Frau Julika aufs Land. Doch das Happy End bleibt aus: Julika stirbt, und Stiller lebt fortan allein in seinem biederen Landhäuschen. Es ist ihm nicht gelungen, ein anderer zu werden. Wir widmen uns jetzt Frischs zweiten großen Roman "Homo Faber" aus dem Jahr 1957. Er selbst nennt ihn "Bericht". Hans Kärcher hat ihn aufmerksam für uns gelesen: Wenn man die ersten Seiten dieses Reiseberichtes durchliest, fühlt man sich sogleich wie auf einer Zeitreise in die 1950er Jahre versetzt. Die Zustände in der Kabine sind aus heutiger Sicht kurios und atmen den Geruch von Freiheit und Abenteuer. Das Flugzeug ist eine Super-Constellation, eines der letzten Propeller-Flugzeuge, das nach Ausfall von 2 der 4 Propeller in der mexikanischen Wüste notlanden muss. - Und dann der unterschwellige Rassismus und das unterschwellige Bewusstsein des Protagonisten, als weißer mittelalter Mann etwas Besseres zu sein! In der Toilette des Flughafens von Houston begegnet er einer schwarzen Reinigungskraft, und das N-Wort und die Beschreibung rassistischer Merkmale der Frau fließen ihm ungebremst aus der Feder. - Und dann des Protagonisten Einstellung zu den Frauen! (Oder ist es eventuell sogar die des Autors, Max Frisch). Drei exemplarische Frauentypen kommen im Buch vor: Erstens Hanna, seine Kommilitonin, die er zur Abtreibung überreden will; der er dann aber nach Bagdad entflieht. Zweitens seine Geliebte Ivy in New York, ein Zweckbündnis zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, das ihm aber inzwischen auf die Nerven geht. Drittens Sabeth, in die er sich auf einem Passagierschiff auf der Rückreise von New York nach Europa verliebt, bevor er bemerkt, dass es sich um seine eigene, von Hanna nicht abgetriebene Tochter handelt. Die alten Griechen lassen grüßen. Man erkennt: Wie Stiller flüchtet auch Walter Faber aus allen Verbindlichkeiten. Zum Thema Technik im Homo Faber übergibt Hans Kärcher das Wort an seine Frau Rosi Kärcher, die wie Max Frisch von ihrer Ausbildung her Architektin ist und den "Homo Faber" ebenfalls in der Schule als Pflichtlektüre kennengelernt hat. Rosi Kärcher zieht sehr überzeugend eine Parallele von ihrem Denken zum Buch: Besonders die Auseinandersetzung mit den Themen Zufall und Wahrscheinlichkeit, Schicksal und Fügung haben mich interessiert. Mein Vater war ebenfalls Ingenieur und er versuchte, mir meine Ängste mit Hilfe von Statistik und Wahrscheinlichkeit zu nehmen. Sein Beruhigungskonzept: die Wahrscheinlichkeit, bei einem Flugzugabsturz ums Leben zu kommen sei viel geringer als bei einer Fahrt mit dem Auto. Bei seinen Beschwichtigungen war mir unklar, was ist, wenn mein Fall statistisch im Bereich des Unwahrscheinlichen liegt, aber trotzdem stattfindet. Genau diese Themen werden in dem Buch "Homo Faber" behandelt. Faber sagt:" ….wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, ist nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen, und zwar als Grenzfall des Möglichen …". Resümee: auch heute nach über 60 Jahren ist Homo Faber ein lebhaftes und gut zu lesendes Zeitdokument aus den 1950er Jahren!

Als Beispiel für Max Frischs Bühnenschaffen lesen Barbara Metz und Dieter Körber das Nachspiel zu "Biedermann und die Brandstifter".Bravourös wie die beiden manchmal 4 Rollen darstellen. Das ironische Stück wurde 1958 uraufgeführt. Der bitterböse Humor, die Zeitlosigkeit des Sujets und nicht zuletzt der Titel, der zum geflügelten Wort wurde, verhalfen dem "Lehrstück ohne Lehre", wie Frisch es betitelt, zu großer Popularität. Inhalt: Der Haarwasserfabrikant Gottfried Biedermann wird am Abend vom arbeitslosen Schwergewichtsringer Josef Schmitz besucht. Nachdem dieser den Fabrikanten wegen seiner "Menschlichkeit" und seines "sozialen Gefühls" gelobt hat darf auch sein Freund Eisenring mit auf dem Dachboden schlafen. Seinen Untergebenen gegenüber ist Herr Biedermann allerdings weniger menschlich. Er hat seinem Angestellten Knechtling gekündigt. Dieser begeht Selbstmord und Biedermann weigert sich schroff, dessen nun mittellose Familie zu unterstützen.Er schöpft keinen Verdacht, als seine "Gäste" Benzinfässer auf den Dachboden rollen, und gibt ihnen sogar Streichhölzer. Wenig später brennt sein Haus und bald sinkt die ganze Stadt in Schutt und Asche. Nachspiel: Herr und Frau Biedermann sind tot und treffen in der Hölle Schmitz als Beelzebub und Eisenring als Teufel. Letzterer kommt gerade wieder vom Himmel zurück, wo er vergeblich Beschwerde führte, dass dort alle wirklichen Verbrecher begnadigt würden. Eisenring befiehlt also dem Chor das Höllenfeuer zu löschen, denn er weigert sich noch irgendeinen armen Sünder, der nichts wirklich Schweres verbrochen hat, aufzunehmen. Biedermann verlangt entrüstet, in den Himmel zu kommen. Die Teufel aber kehren auf die Erde zurück, um von Neuem ihr Unwesen zu treiben. Der sehr lebendige Vortrag lässt die Figuren und ihre Nöte lebendig werden. Mit den Klavierklängen von "A Taste of Honey" von Bobby Scott, wird übergeleitet zum letzten Beitrag über Max Frisch.

In einem erfrischenden Vortrag stellt Almut Rose die 1975 veröffentlichte autobiografisch gefärbte Erzählung "Montauk" vor. Der alternde Autor verliebt sich in eine junge Verlagsangestellte, die ihn auf seiner Promotionstour in USA begleitet, aber nichts von ihm weiß oder gelesen hat. Daher kann er ihr sein Leben und seine Bücher neu und anders erzählen an seinem letzten Wochenende vor seinem Rückflug im Mai 1974 in Montauk, einem kleinen Ort am Ende von Long Island. Nach seiner Heimkehr verfasst er diese Erzählung, die von Marcel Reich- Ranicki als Frischs "intimstes und zartestes, sein bescheidenstes und gleichwohl kühnstes, sein einfachstes und vielleicht eben deshalb sein originellstes Buch" bezeichnet wurde. In "Stiller" hatte Frisch noch gesagt "Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben". In "Gantenbein" "Ich probiere Geschichten an wie Kleider". In "Montauk" sind es autobiografische Geschichten. Wie z. B. die Erinnerung an seinen Jugendfreund und Mäzen, den Kunstsammler Werner Coninx, im Buch als Einziger verschlüsselt immer "W", der ihm sein Architekturstudium bezahlte. Als er Frischs schriftstellerische Arbeit nicht bewunderte zerbrach die Freundschaft. Natürlich stehen Frischs ehemalige Gefährtinnen im Mittelpunkt der Erzählung. Beim neuerlichen Lesen in heutiger Zeit ist es sehr interessant, dass wir jungen Frauen nicht empört waren über Frischs Macho-Haltung und wie er seine Partnerinnen immer nur ausnutzte und sein Ego in den Mittelpunkt stellte. Es gibt ein von Felix von Manteuffel sehr gut gelesenes Hörbuch. Mit der "Hymn of praise" von David Plüss ruft Martina Riedel die in anregende Gespräche vertieften Besucher aus der Pause zurück.

Hans Kärcher fand Friedrich Dürrenmatts Essay "Mondfinsternis" in dem erst kurz vor seinem Tod 1990 zusammengestellten Buch "Labyrinth - Stoffe I - III". Die "Stoffe" sind autobiografische Essays, in denen Dürrenmatt schildert, wie er aus seinem persönlichen Erleben heraus zu den Themen seiner Stücke kam. Amüsant und überzeugend schildert Hans Kärcher, dass der große Erfolg des aus der "Mondfinsternis" entstandenen Theaterstücks "Der Besuch der Alten Dame" Dürrenmatt in die Lage versetzte "Witwenkeller" aufzukaufen und im großen Stil teuerste Weine zu konsumieren. Dies machte ihn ihm von Anfang an sympathischer als den Kettenraucher Max Frisch. Nicht wegen des Zeitgeistes wie bei Frisch, sondern wegen der in seinen Theaterstücken zutage tretenden starken Persönlichkeiten und seiner Auseinandersetzung mit der eigenen, Schweizer Herkunft aus einem Pfarrhaus im Emmental, lohnt die Beschäftigung mit Dürrenmatts Theaterstücken. Die Novelle spielt in dem kleinen, unzugänglichen Bergdorf Flötigen. Der Auswanderer Walt Lotcher kehrt aus Kanada mit Privatflugzeug und Cadillac in seinen Geburtsort zurück. Er möchte sich an Doufus Mani rächen, der ihm damals die Freundin abspenstig gemacht hat. Für vierzehn Millionen sollen die Dorfbewohner Mani bei Vollmond ermorden. In der Nacht der Hinrichtung aber beginnt der Mond sich zu verfinstern. Zweifel beschleichen die Männer, die zur Hinrichtung angetreten sind. Schließlich wird ein Unfall inszeniert und die Blüttlibuche erschlägt Mani. Hans Kärcher hat den Eindruck, dass Friedrich Dürrenmatt über die doch sehr männliche Sicht des Rachemotivs in der "Mondfinsternis" ins Nachdenken kam. In der "Alten Dame" überträgt er das Rachemotiv dann auf Claire Zachanassian, eine Frau, die sich für männliche Untaten rächt. Das kann man auch heute noch, im Zeitalter von Me-To und Gender-Wahn, nur gutheißen!

Mit einem brillanten Vortrag nimmt sich Dr. Michael Rettinger den Kriminalroman "Das Versprechen" vor. Die Urfassung des Romans diente als Drehbuch für den darauf basierenden Film - "Es geschah am hellichten Tag" - ein klassisch angelegter Krimi von 1958 mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe, den wir uns am 18.11.2021 im Kino ansehen werden. Er erzählt die Geschichte des Kommissars Matthäi, der einen Kindsmord aufklärt. Dr. Rettinger führt nun sehr eingehend aus, wie Dürrenmatt im Roman "Das Versprechen" - Untertitel: "Requiem auf den Kriminalroman"- die Filmstory veränderte und damit ein künstlerisches und ein sich vom Film distanzierendes Statement abgab. Im Alltag gehen wir grundsätzlich von der Prämisse aus, das Leben durch unsere Handlungen steuern und durch unsere Logik verstehen zu können. Das aber trifft nach Dürrenmatt nicht zu. Der Zufall lässt die Dinge oftmals ins Unerwartete, Unverständliche, ja Abgründige entgleiten. Im Roman trifft ein Autor von Kriminalromanen den ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich. Dieser hält an einer Tankstelle mit einem völlig verwahrlosten Tankwart, seinem einstmals besten Kommissar Dr. Matthäi und erzählt dessen Geschichte. Die Geschichte eines Mannes, der scheitert - bis in den Wahnsinn hinein. Wie kam es dazu? Was war passiert mit Matthäi? "Sein Verstand war überragend […]. Er war ein Mann der Organisation, der den Polizeiapparat wie einen Rechenschieber handhabte. […] Er hatte nichts im Kopf als seinen Beruf, den er als ein Kriminalist von Format, doch ohne Leidenschaft ausübte. So hartnäckig und unermüdlich er auch vorging, seine Tätigkeit schien ihn zu langweilen, bis er eben in einen Fall verwickelt wurde, der ihn plötzlich leidenschaftlich werden ließ. Ein Mädchen wird ermordet und er verspricht der Mutter, den Mörder zu finden. Ein Hausierer wird als Mörder verurteilt, aber er glaubt nicht, dass der wirklich der Mörder ist. Es ist nun, typisch Dürrenmatt, ein Zufall, durch den der Kommandant ein Jahr später erfährt, dass es tatsächlich den wahren Mörder gab, dass der tatsächlich wieder unterwegs war nach Chur, um das Mädchen Annemarie zu töten, genau an dem Tag, an dem der Kommandant und Matthäi das Mädchen im Wald beobachteten. Und wieder war es, typisch Dürrenmatt, ein Zufall, dass der Mörder nicht im Wald ankam: Auf dem Weg dorthin starb er bei einem Autounfall. Der Kommandant informiert Matthäi darüber, doch ist es für ihn zu spät - er ist wahnsinnig geworden. Die mit Verve gespielten "Geschichten aus dem Wiener Wald" reißen die Zuhörer aus trüben Gedanken und leiten über zu Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie "Die Physiker". In einem Irrenhaus geschieht zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten ein Mord. Ein verrückter Physiker, der sich für Einstein hält, hat eine der Schwestern erwürgt. Der zuständige Polizeiinspektor ist außer sich, da auch ein zweiter in der Anstalt einsitzender Physiker, der seinerseits glaubt, Newton zu sein, bereits einen ganz ähnlichen Mord begangen hat. Die Chefärztin verspricht, für mehr Sicherheit zu sorgen und die Krankenschwestern durch männliche Pfleger zu ersetzen. Als auch der dritte Physiker im Haus, Johann Wilhelm Möbius, einen Mord an einer Schwester begeht, erklärt er dem Inspektor, dass König Salomon ihm den Auftrag dazugegeben habe. Tatsächlich spielt Möbius den Irren nur, um sich in der Anstalt verstecken zu können. Er hat die Formel aller Formeln gefunden und glaubt, dass seine Erfindung, sobald sie in die falschen Hände gerät, Unheil über Menschheit bringen wird. Die beiden Physiker Einstein und Newton spielen ebenfalls nur verrückt. Auch sie sind anerkannte Physiker, die jedoch vom Geheimdienst ihres jeweiligen Landes beauftragt worden sind, sich im Irrenhaus einzuschleichen und an Möbius' Arbeiten zu kommen. Wie sich herausstellt, ist die Chefärztin von Zahnd die einzig wirklich Verrückte. König Salomon sei ihr erschienen und habe ihr aufgetragen, in seinem Namen die Weltherrschaft zu übernehmen.

Zum Abschluss des Programms lesen Barbara Metz und Dieter Körber eine Szene aus dem Stück von Dürrenmatt. Die ausgewählte Szene und der lebendige Vortrag vermitteln eindrucksvoll das Anliegen Dürrenmatts: die Verantwortung des Naturwissenschaftlers für die Folgen seines Tuns.





Anschließend werden die Akteure des Abends mit reichlich Applaus von einem offensichtlich zufriedenen Publikum verabschiedet.
Die nächsten Termine:
Donnerstag, 18. November, 19:30 Uhr, den Film: "Es geschah am hellichten Tag"
im Cinepark Karben


Donnerstag, 25. November, 19:30 Uhr, "Friedrich Hölderlin,
ein Leseabend mit musikalischer Begleitung" im KUHtelier, Burg-Gräfenröder-Straße 2,
61184 Groß-Karben


Almut Rose