Literaturforum Karben e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 25. Mai 2023
Skandale in der Literatur
Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 – 22:00 Uhr
Anwesende : ca 60 Personen
Da der erste Vorsitzende immer noch erkrankt ist, übernahm die 2. Vorsitzende
Karin Schrey
Elke Lange-Helfrich und übergab dann das Wort an den Organisator des Abends
Dr. Michael Rettinger. Dieser eröffnete den Abend mit einer vielseitigen
Einführung in die Thematik.
Skandale seien natürlich kein Phänomen der Moderne, es habe sie schon immer gegeben.
Heutzutage seien sie allerdings durch das Internet omnipräsent, allerdings
verringere sich auch die Halbwertszeit der Skandale mit immer schneller werdenden
Medien, in denen die Themen in rascher Folge wechselten. Die Diskussion von
Skandalen in den Medien sei auch deshalb interessant, weil sie die Normen der
Zeit offenbare. Das Wesen aber gerade von großer Kunst liege doch auch darin,
eben im Werk nicht einem gesellschaftlich anerkannten Kanon an Normen zu genügen,
sondern im Gegenteil diesen zu konterkarieren und damit neue, sehr ungewohnte,
weil eben unübliche Sichtweisen zu eröffnen. Der Künstler als Tabubrecher.
Drei Dinge machten den Skandal: 1) Ein Normbruch; 2) die Veröffentlichung des
Normbruches; 3) eine öffentliche Empörung. Gibt es keine Empörung, dann gebe es
auch keinen Skandal.
Am heutigen Abend gehe es um Skandale, die eine nationale, zuweilen sogar eine
internationale Empörung ausgelöst und leidenschaftliche Diskurse entfacht haben.
Nach einer wunderbar weichen Saxophon-adaption von Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“
nahm Helmut Regenfuß mit Gustave Flaubert und seinem
Roman „Madame Bovary“ von 1856 das Wort. Der Roman hat den Untertitel:
„Ein Sittenbild aus der Provinz“. Flaubert hat den Ehrgeiz seine Beschreibung
der Realität in einer schönen Sprache zu vermitteln. Was zuvor nur Ziel der Lyrik
und der Dramatik war übernahm er als Ziel seines Romans. Aus dieser sorgfältigen
Gestaltung resultierte die lange Entstehungszeit. Während er schrieb, öffnete er
das Fenster und schrie seine Texte hinaus, um ihren Klang und ihre Wirkung zu
erproben. Und, um Material zu haben, das er schön gestalten konnte, dehnte er
seine realistischen Beschreibungen oft erstaunlich weit aus.
Der 1821 in Rouen geborene Gustave Flaubert stellte so hohe Ansprüche an sein
eigenes Werk, dass er 5 Jahre an diesem Roman arbeitete und ihn erst mit 35 Jahren
veröffentlichte - zunächst als Vorabdruck in der Zeitschrift „Revue de Paris“ –
mit einigen Kürzungen – da dem Verleger schon Böses schwante und tatsächlich
wurde ein Prozess angestrengt.
Flaubert hatte einen geschickten Verteidiger der prominente Zeugen für den
literarischen Wert des Romans aufbot und einen Freispruch erwirkte. Der Prozess
und der Skandal um das Buch hatten natürlich das Interesse des Publikums geweckt
und es wurde ein Bestseller.
Helmut Regenfuß fasste den Inhalt gekonnt zusammen und zitierte dann aus einer
Neuübersetzung von Elisabeth Edl, die Flauberts Ambitionen gerecht wurde.
Flaubert hat den ersten modernen Roman geschaffen im Stil des Realismus.
Er beschreibt das Leben der Emma Bovary, die Gesellschaft in der sie lebt und
ihre Leidenschaften im Detail. Aber er urteilt nicht, er billigt nicht und er missbilligt nicht.
Passend zum folgenden Beitrag spielte Frau Lange-Helfrich den „Reigen“ von
Oskar Straus auf ihrem Saxophon mit dem wundervoll warmen Ton.
Es folgte Almut Rose mit Arthur Schnitzlers „Reigen“ von 1920, der Zensurgeschichte
schrieb, dessen Aufführungen von Tumulten begleitet waren und weswegen Schnitzler
als Pornograf und „jüdischer Schweineliterat“ beschimpft wurde, obwohl im Stück ja
das exakte Gegenteil zu sehen ist: von Trieb und Sehnsucht gepeinigte statt berauschte Figuren.
Die Figuren bilden im wahrsten Sinne einen wollüstigen Reigen: Was beim Bodensatz
der Gesellschaft anfängt, geht weiter im Milieu der Klein- und Großbürger, Künstler
und Adligen, bis der Graf wieder bei der Dirne landet und der Reigen sich schließt.
Je höher die Figuren auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, desto länger dauert
das verbale Vor- und Nachspiel, desto mehr wird gelogen, taktiert und sich geziert.
Ist es endlich so weit, dass der Akt vollzogen wird, wird die Handlung auf eine Zeile
aus schlichten Gedankenstrichen reduziert. Die Fantasie des Lesers – oder Theaterzuschauers -
ist gefragt, die dazugehörigen Bilder im Kopf zu liefern. Schnitzler gelingt es
allein durch die Kunst des Dialogs, die gesellschaftlichen Dünkel der Charaktere,
ihre Ängste, Träume und Machtfantasien zu entlarven und sie in ihrer Verletzlichkeit
vorzuführen.
Erst mit der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg gab Schnitzler das
Stück zur Aufführung frei. Die Berliner Inszenierung vom 23. Dezember 1920 war
nach heutigen Maßstäben geradezu prüde: Bei den Gedankenstrichen im Text verdunkelte
sich die Bühne und ein grüner Zwischenvorhang fiel herab.
Im gegen die Berliner Aufführung angestrengten Prozess nahmen Zeugen an der
angeblichen „Verherrlichung des Ehebruchs“ Anstoß. Dass der Prozess mit einem
Freispruch endete, sahen viele als hoffnungsvolles Signal für die Freiheit der
Kunst. Doch Schnitzler hatte die antisemitischen Ausschreitungen in Wien miterlebt.
Er verhängte daraufhin ein Aufführungsverbot, das 60 Jahre lang in Kraft blieb.
Zum Schluss ihres lebendigen Vortrages warf Almut Rose einen Blick auf heutige
Aufführungen des Stückes.
Mit „Angel Eyes“ lockte Elke Lange-Helfrich die Zuhörer aus der Pause
und Annette Wibowo warf die Frage auf, ob Vladimir Nabokov nur deshalb so
mitreißend und anschaulich seine „Lolita“ schreiben konnte weil er selber
pädophil war. Diese Frage wird tatsächlich heute noch kontrovers diskutiert.
Lolita ist die erfundene Verteidigungsschrift eines Literaturdozenten
„Humbert Humbert“, der sich wegen Mordes an Clare Quilty, der mit Humbert
eine Obsession für „Nymphlein“ - angeblich dämonische Mädchen zwischen neun
und vierzehn - geteilt hat, verantworten muss. Der Roman ist ein Kunststück der
Einfühlung in Verbrecher und Opfer. Lolita ist ein Romanvergehen, aber zuletzt
vergeht es sich am Leser und an der Leserin. Schlau führt Humbert alle möglichen
Deutungsmuster aus Psychologie und Soziologie auf, die für ihn sprechen könnten
und macht sich zugleich über sie lustig und auch über uns Leser. Nabokov hat
seinen Lesern eines der letzten Tabus der abendländischen Zivilisation zu Bewusstsein gebracht.
Annette Wibowo zeigte in ihrem spannenden Vortrag gekonnt warum Nabokov
zu den einflussreichsten Erzählern des 20. Jahrhunderts zählt.
„Fragile“, ursprünglich von Sting, wunderbar auf dem Saxophon gespielt leitete über
zu Skandalen,die nichts mit Erotik zu tun hatten.
Thomas Bernhards Theaterstück „Heldenplatz“, uraufgeführt 1988, war ein Politikum
in Österreich, das in dem Jahr der Uraufführung auch des 50. Jahrestages des
Anschlusses Österreichs an Hitlerdeutschland gedachte. Die öffentliche Stimmung
im Land war schon im Vorfeld der Aufführung immens aufgepeitscht, es gab vehement
protestierende Stimmen gegen Bernhard und sein Stück, aber es gab auch viele
Künstlerkollegen, die sich auf die Seite Bernhards und des mutigen Direktors des
Wiener Burgtheaters Claus Peymann stellten.
Es war die Zeit einer Affäre um den damaligen österreichischen Bundes-präsidenten
Kurt Waldheim, der bei seiner Wahl seine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP verschwiegen
hatte und damals deshalb gerade unter größter Kritik stand.
Auch in diesem Vortrag zeigte Hans Kärcher wieder sein profundes Wissen und seine
Verehrung für Thomas Bernhard. Er zitierte aus perfekt ausgewählten Pressetexten
und der Chronik des Verlegers Siegfried Unseld, aus denen sich die Gründe für den
großen monatelang währenden Skandal erschlossen.
Zum Schluss dann ein Stück Original-Text, in dem Bernhard über Gott und die Welt
schreibt und zu dem Schluss kommt: „Die Österreicher sind vom Unglück Besessene.
Der Österreicher ist von Natur aus unglücklich und ist er einmal glücklich schämt
er sich dessen und versteckt sein Glück in seiner Verzweiflung“.
Im Februar 1989 starb Thomas Bernhard dann an Herzschwäche. Mit seinem Testament
sorgte er ein letztes Mal für Aufregung, indem er in ihm ein allgemeines Aufführungs-
und Publikationsverbot für alle seine Werke innerhalb Österreichs verfügte.
Dem Aufführungsverbot wird in Österreich inzwischen dadurch Rechnung getragen,
dass die Aufführungen ohne die Anwesenheit von Politprominenz durchgeführt werden.
Mit Astor Piazzollas ruhigem Lied „Oblivion“ setzte Elke Lange-Helfrich
wohl überlegt einen Kontrapunkt zum letzten Skandal.
Ingrid und Robert Axt hatten
Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ von 2002 für ihren Vortrag ausgewählt.
Der schlug hohe Wellen, weil etliche auftretende Figuren sich ganz offenbar an
reale Persönlichkeiten anlehnten. Allen voran aber war jedem Leser klar, dass
mit dem im Titel genannten Kritiker nur der Literaturpapst Deutschlands,
Marcel Reich-Ranicki, gemeint sein konnte. Gemeinhin wird der Roman als eine
Abrechnung mit dem Kritiker gewertet.
Robert Axt fasste die Vorgeschichte kurz zusammen:
Für Martin Walser, seit einigen Jahren ohne Bucherfolg, wird es
mit seiner sechsköpfigen Familie finanziell eng. Er hofft auf einen
Erfolg seines neuen Romans „Jenseits der Liebe“, der 1976 auf den Markt kommt.
Doch gleichzeitig erscheint in der FAZ die Rezension Reich-Ranickis mit der
Überschrift „Jenseits der Literatur“ und folgendem Wortlaut:
„Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman.
Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses
Buchs zu lesen. Seine Diktion ist saft- und kraftlos. In dieser Asche gibt es keinen Funken mehr.“
Seitdem ein Auf und Ab in der Beziehung der Beiden, was einmal als „
schöne Bewahrung von Kindlichkeit in hohem Alter“ bezeichnet wurde.
Ingrid Axt trug eindringlich einige passend gekürzte Passagen aus dem Buch vor:
Der Ich-Erzähler des Romans will beweisen, dass sein Freund Hans Lach, dessen
letztes Buch in Ehrl-Königs Literatursendung verrissen worden war, nicht für das
Verschwinden des Starkritikers verantwortlich sein kann, von dem alle annehmen,
dass er ermordet wurde. Indizien deuten auf Hans Lach als den Täter hin.
Im Lauf seiner Recherchen bei der Polizei und innerhalb der Literaturszene
entwickelt der Freund des Verdächtigen höchstinteressante, authentisch wirkende,
psychologische Studien der handelnden Personen.
In der Öffentlichkeit gingen die Meinungen weit auseinander, ob es sich bei
diesem Buch bloß um eine Parodie auf den Literaturbetrieb, garniert mit einer
poetischen Retourkutsche, oder um ein ausgewiesenes Hass-Werk, gerichtet auf die Person MRR handele.
Robert Axt warf die Frage auf, ob das wochenlange Hin und Her in den Zeitungen
evtl nur ein Marketingtrick war, denn der Verkauf des Buches lief ja enorm gut
und schloss seinen interessanten Vortrag mit einem persönlichen statement, dass
er einige Passagen im Buch mit sexuellen Anspielungen auf die Person des Kritikers
unpassend fand, ja an der Grenze zu einer persönlichen Beleidigung.
Dann bat die zweite Vorsitzende Karin Schrey die Akteure auf die Bühne.
Mit Blumen und Wein für die Musikerin und Dank an die Mitwirkenden und das
Publikum beschloss Karin Schrey den Abend, der mit großem Applaus belohnt wurde.
Der nächste Abend am 29. Juni wird sich mit E.T.A. Hoffmann beschäftigen.
Almut Rose