Bericht vom 4. virtuellen Treffen des Karbener Literaturforums:
Literatur der ehemaligen DDR
Das Literaturforum Karben e. V. berichtet von seinem vierten virtuellen Literaturabend.
Donnerstag 17. Juni 2021
Beginn 19:30 Uhr, Ende 21:00 Uhr Mitwirkende: Dieter Körber, Karin Schrey, Almut Rose, Barbara Metz, Annette Wibowo,
Helmut Regenfuß, Martina Riedel am Klavier.
Besucher: ca 25
Der Vorsitzende Dieter Körber begrüßt die Gäste zum 4. coronabedingt virtuellen
Literaturabend und spricht von den Plänen, die nächsten Veranstaltungen wieder
mit Präsens durchzuführen. Er erzählt von seinem Gespräch mit Inge Heym der Witwe
von Stefan Heym, sie selbst eine bedeutende Schriftstellerin, hat dem Literaturforum
Karben erlaubt, aus den Werken Stefan Heyms zu lesen. Sie hat um einen Link fürs
Zuschalten gebeten und ihren Wunsch zur Teilnahme geäußert.
Martina Riedel lockerte das Programm auf und bereicherte es mit ihrem Klavierspiel,
sehr klangvoll durch das eingesetzte elektronische Klavier.
Hans Kärcher sorgte wieder umsichtig für funktionierende Technik.
In seiner Einführung beschreibt Dieter Körber die Geisteshaltung der in der DDR
lebenden und schreibenden Autoren und belegt dies mit Zitaten von Bert Brecht und
von bedeutenden Germanisten der ehemaligen DDR.
Dieter Körber versucht durch diese Zitate ein Verständnis für die Haltung der
Autoren der ehemaligen DDR zu vermitteln. Gleichzeitig wirft er einen Blick auf
die Geschichte des 17. Juni und den Arbeiteraufstand in der untergegangenen DDR.
Im Programm des Abends werden bedeutende Autorinnen und Autoren vorgestellt, die
während ihres Lebens in der DDR schrieben und veröffentlichten aber meist dann
auch aus den ideologischen Einschnürungen ausbrachen.
Passend intoniert hier Martina Riedel "Those were the Days" von Gene Raskin im Arrangement von Susi Weiss.
Dieter Körber beginnt mit Stefan Heym einem der bedeutendsten Autoren DDR. Er
wurde am 10. April 1913 in Chemnitz als Helmut Flieg geboren. Sein Leben und Werk
ist geprägt von Sozialismus, Judentum und Exil. Es ist ein pralles Leben.
Heym selbst hat für seine Autobiografie oder besser den Roman seines Lebens gut
800 Seiten gebraucht. Mit souveräner Altersironie hat er ihr den Titel "Nachruf" gegeben.
Erzählt wird darin - zum Teil in der dritten Person - das schwierige Leben des "S. H."
als deutscher Jude und kommunistischer Literat, als Emigrant und US-Amerikaner,
als Bürger und Kritiker der DDR und zeitweilig deren "bekannteste Unperson"
(so Heym). Der Roman "Nachruf" porträtiert einen Mann, der sich von Anfang an
als "Zeitzeuge" fühlte und, dem "Trieb" folgte, "sich zu exponieren", zugleich
aber lebenslang nach "Geborgenheit" suchte. Heym über sein Leben:
"Mein Leben ist nicht gerade reich gewesen an Momenten, in denen ein Gefühl der
Sicherheit das Herz erfüllte. Die Zeiten waren nicht danach."
1933 flieht der junge Helmut Flieg, der sich aus Rücksicht auf seine Angehörigen
das Pseudonym Stefan Heym zulegt, vor den Nazis nach Prag, 1935 zieht er mit einem
Stipendium in die USA. Dort schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch, schließt
sein Germanistikstudium mit einer Magisterarbeit über Heine ab, wird Redakteur
bei linken Emigrantenblättern. Er findet Kontakt zu einem Chicagoer Schriftstellerkreis
um Nelson Algren ("Der Mann mit dem goldenen Arm"), und hat 1942 mit seinem ersten Roman
"Hostages" Erfolg. 1943 wird er zur Army eingezogen, erhält er die US Staatsbürgerschaft -
Amerika scheint ihm zur neuen Heimat geworden. Er wirkt als US-Sergeant Heym beim
Aufbau der westdeutschen Nachkriegspresse mit. In der Redaktion der "Neuen Zeitung"
in München trifft er als Kollegen ein Idol seiner Jugend wieder, Erich Kästner.
Heym geht in die USA zurück. Aber er empfindet in dem Land, von dem er sich "Sicherheit"
erhofft hatte, nun "Vereinsamung", er fühlt sich von McCarthys Hexenjagd bedroht.
Seine wichtigste Waffe, die in den späteren Romanen zu erkennen ist, bildet die Ironie.
Stefan Heym stirbt am 16. Dezember 2001 auf einer Lesereise in Israel (En Bokek).
Körber stellt seinen Roman "5 Tage im Juni" vor. Der Roman ist in seiner äußeren
Form tagebuchähnlich aufgebaut, er besteht aus einzelnen Scenen oder auch inneren
Monologen die mit Zeitangaben überschrieben sind. Dieter Körber veranschaulicht mit zwei sehr eindringlich gelesenen Kapiteln des
Romans die ursprüngliche Problematik des Widerstandes der Arbeiter und den fast
elegischen Ausklang als russische Panzer das Regime retteten.
Mit der großen Schriftstellerin Christa Wolf führt Helmut Regenfuß das Programm
weiter. Mit ihrem Roman Kassandra, der 1983 erschien, traf Christa Wolf den Nerv
der Zeit. Angesichts der atomaren Bedrohung und des Wettrüstens zwischen den
Großmächten machte sich in Deutschland eine geradezu apokalyptische Stimmung
breit. Die Erzählung führt auf mythologisch verschlüsselte Weise die Absurdität
eines jahrzehntelangen, kräftezehrenden und vor allem sinnlosen Krieges vor Augen.
Seit 1961 veröffentlichte Christa Wolf eine wachsende Zahl von Werken, die in Ost
und West Anerkennung fanden. Sie war immer überzeugte Sozialistin, aber nicht
immer linientreu und zunehmend enttäuscht von der Entwicklung des real existierenden
Sozialismus in der DDR. 1983 wendet sie sich mit Kassandra erstmals einem Stoff
aus der Antike zu. Christa Wolf sagt später, sie habe da eine Botschaft versteckt,
die die SED-Zensur nicht verstanden habe, nämlich, dass Troia untergehen muss.
War Christa Wolf da auch eine Kassandra? Helmut Regenfuß gelingt es mit gewohnter
Akribie die Erzählstränge zu entwirren, und die komplexe Erzählung dem
Publikum nahe zu bringen.
Eine weitere große Dame der DDR-Literatur folgt, Eva Strittmatter.
Eva Strittmatter arbeitet als Lektorin beim Deutschen Schriftstellerverband der
DDR und beim Kinderbuchverlag Berlin, ab 1954 endgültig als freie Schriftstellerin.
Im Gegensatz zu ihrem Ehemann Erwin Strittmatter veröffentlichte sie vorwiegend
systemunkritische Werke, vor allem Gedichte. Im Osten Deutschlands erreichen
ihre Gedichtbände Auflagen von mehr als zwei Millionen Exemplaren. Die fast
klassische Einfachheit ihrer Sprache wird aber auch im Westen gelobt.
Eva Strittmatter verstirbt im Alter von 81 Jahren in Berlin.
Annette Wibowo stellt die Dichterin vor und zitiert fein nuanciert einige ihrer
Gedichte. Hier ein Beispiel: Freiheit I
Ich kann dich lieben oder hassen-
ganz wie du willst. (Kann dich auch lassen.)
Und du kannst schweigen oder sprechen.
Ganz wie du willst. Daran zerbrechen werd
ich nicht mehr. (Ich kann auch gehn.)
Ganz wie ich will, wird es geschehen.
Nun entspannt uns Martina Riedel wieder mit leichter Klaviermusik: "Chaconne" von Yiruma.
Karin Schrey stellt als Nächstes Werner Bräunigs unvollendeten Roman "Rummelplatz"
vor. Es ist ein Gesellschaftsroman, der am Beispiel der Arbeiter der "Wismut",
einer von den Russen beschlagnahmten Uranmine, die Zustände in der DDR von ihrer
Gründung 1949 bis zum 17. Juni 1953 beschreibt.
Werner Bräunig galt in der DDR als Systemkritiker. Der Vorabdruck seines Romans
wurde 1965 auf dem berüchtigten 11. Plenum der SED, heftig angegriffen und
schließlich verboten. Als auch mehrere Änderungen nichts halfen, war sein Selbstvertrauen
zerstört, dazu kam der Alkohol. 1976 starb er in Halle; er wurde nur 42 Jahre alt.
Das Manuskript des Romans galt danach als verschollen. 1991 tauchte das Originalmanuskript
in einer Ausstellung "Zensur in der DDR" auf. Der Aufbauverlag übernahm 2005 die
nicht leichte Aufgabe, daraus ein Buch zu machen. Überzeugend und begeisternd liest
Karin Schrey sehr gut ausgewählte Textstellen.
Almut Rose führt uns mit Jurek Beckers "Jakob der Lügner" in ein fiktives Ghetto
während der Nazi-Herrschaft in Polen.
Protagonist ist der Jude Jakob Heym, der den Menschen im Ghetto Hoffnung und
Lebenswillen einflößt, indem er Nachrichten über das Vorrücken der Roten Armee
erfindet, die er aus einem sich angeblich in seinem Besitz befindlichen Radio haben
will. Am Ende halten seine Lügen der grausamen Wirklichkeit nicht stand.
Anders als Jakob hat der Ich-Erzähler den Holocaust überlebt. Jakob hat ihm die
Geschichte anvertraut, die der "Erzähler" - unterbrochen von eigenen Erinnerungen,
Reflexionen und Ansichten - schildert. Als die DEFA sein Drehbuch nicht verfilmt,
arbeitet Jurek Becker es zum Roman um, der bei Erscheinen 1969 sofort ein großer
Erfolg wird. Die Verfilmung durch die DEFA 1974 war als bester ausländischer Film
und als Einziger jemals aus der DDR für den Oscar nominiert. 1999 griff Hollywood
dann den Stoff erneut auf. Mit Engagement und Verve lässt Almut Rose durch ihre
farbigen Schilderungen und den sehr klug ausgesuchten Textbeispielen
den Roman begreiflich werden.
Den Abschluss bildet der "Der fremde Freund" von Christoph Hein, dieses Werk
begründete 1982 Christoph Heins literarischen Durchbruch. Die Novelle, die aus
rechtlichen Gründen unter dem Titel "Drachenblut" erscheinen muss, gilt inzwischen
als Klassiker. Verstörend nüchtern berichtet die Ostberliner Ärztin Claudia über
ihr Dasein als alleinstehende Frau und die undefinierte Beziehung zu ihrem Nachbarn
Henry. Barbara Metz liest eindrücklich im gekonnten Wechsel zwischen dem lakonischen
Fluss des Berichts den fast unbeteiligten Passagen und den emotionsgeladenen Stellen
aus dieser Novelle.
Mit "Bei Dir war es immer so schön" von Theo Mackeben und Hans-Fritz Beckmann
leitet Martina Riedel den Ausklang des Abends ein.
Dieter Körber spricht den Mitwirkenden des gelungenen Abends seinen Dank aus
und lädt alle Gäste zu unserem nächsten nicht mehr virtuellen Abend im KUHtelier ein.
Unter dem Titel
"Literatur Frankreichs im 19. Jh."
findet unser nächster Literaturabend statt,
im KUHtelier, Burg-Gräfenröder-Straße 2, 61184 Groß-Karben am Freitag, 06. August 2021, um 19:30. Einlass ab 19 Uhr.
Für die Besucher gilt beim Eintreten, dem Platzaufsuchen und Toilettengängen Maskenpflicht.
Die Besucher benötigen den Nachweis von 2 Impfungen oder ein ärztliches Attest über
eine überwundene Corona-Infektion oder einen tagesgleichen Negativtest.
Am Abend kann ein Schnelltest durch eine Pharmazeutin durchgeführt werden.