Literaturforum Karben e.V.


Bericht vom Literaturabend, am 27.April 2023:


„Briefe aus dunkler Zeit 1933 - 1945“

Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 - 22: 00 Uhr
Anwesende: ca. 35 Besucher
Unter dem Titel „Briefe aus dunkler Zeit 1933 - 1945“ gelang dem Literaturforum Karben, im übersichtlich besuchten KUHtelier, ein höchst interessanter und mitreißender Literaturabend.
Nach der Begrüßung der Besucher, und der Musikkünstlerin durch die stellvertretende Vorsitzende Karin Schrey eröffnete Elke Lange-Helfrich mit ihrem Saxophon und einem schwungvollem „Bei mir bist du scheen“ von den „Andrew Sisters“ das musikalische Abendprogramm.

Dann übernahm Hans Kärcher, der den Abend gestaltet und organisiert hatte, die Moderation, gab zunächst eine Einführung über das Thema des Abends und führte dann souverän durchs Programm. Aus Anlass des 80-jährigen Jahrestags des Falls von Stalingrad widmete sich der Abend Briefen aus der Zeit um den zweiten Weltkrieg, zunächst aus dem privaten Umfeld der Vortragenden, im zweiten Teil von bekannten Autoren.

Claudia Weißhäupl las zunächst aus den Erinnerungen ihres Vaters an den Krieg in Jugoslawien. Er war dort als Übersetzer tätig und war dort sehr schnell mit Erzählungen und Beobachtungen von Gräueltaten der Wehrmacht konfrontiert. Aus der anschließenden Gefangenschaft gab er einen packenden Bericht über den Kampf ums Überleben bei einem tagelangen Marsch der Gefangenen und dem Aufenthalt im Gefangenenlager. Bewegend war, wie schon Details über Leben und Tod entschieden. Schwacher Magen: Todesurteil; Nachlässigkeit und zu schwach ein Minimum körperlicher Hygiene aufrechtzuerhalten: dem Tode geweiht.



Elke Lange-Helfrich brachte mit ihrem Saxophon und „My favourite things“ von R.Rodgers eine etwas optimistischere Stimmung in die Veranstaltung.

Hans Kärcher gab dann zunächst einen Überblick über Walter Kempowskis „Echolot“. Hier hat der Autor tausende von Briefen, Tagebucheinträgen und ähnlichen Zeitdokumenten aus dem Januar und Februar 1943 gesammelt, also aus der Zeit der Schlacht um Stalingrad und in vier dicken Bänden veröffentlicht.

Herbert Schuch zeigte zunächst, welche politischen Ereignisse in dieser Zeitspanne von Bedeutung waren, und trug dann ausgewählte Teile vor aus „Echolot“ vor: Briefe besorgter Ehefrauen an ihre Männer in Stalingrad und Briefe der Landser nach Hause. Diese Stalingrad-Briefe sind alle vom 9. und 13. Januar 1943 also gerade mal 3 Wochen vor dem Fall Stalingrads. Die Briefe beschäftigen sich mit teils recht banalen Dingen: einem verlorengegangenen Ring und günstig gekauften Anleihen. Wollte oder durfte man das essentielle Thema in den zensierten Feldpostbriefen nicht ansprechen – kommt mein Mann zurück?
Kontrastiert werden diese privaten Sorgen von Texten der Profis und Bürokraten des Krieges. Himmler kümmert sich um die Einrichtung von Feldbordellen; ein Funktionär organisiert die Verschickung von Fremdarbeitern aus Frankreich nach Deutschland und Feldmarschall Alanbrooke berichtet aus seinem komfortablen Hotel in Casablanca über die Diskussionen um die Strategie im Mittelmeerraum.

Nach den Briefen aus aller Welt las nun Rosi Kärcher aus Briefen zweier junger Mädchen aus dem Frankfurter Umkreis. Die 7-jährige Christa Kärcher betont in einer Postkarte an ihre Großeltern: Dass wir unsere Wohnung verloren haben, ist mir ja auch nicht recht. Aber deshalb bin ich doch vergnügt und springe fast jeden Tag draußen herum. Bis ich rein komme sind meine Schuhe dreckig ganz und schmierig. Diese Unbesorgtheit einer 7-jährigen ist erfreulich und wahrscheinlich natürlich. Erstaunlich aber sind die Briefe ihrer 14-jährigen Schwester Elke. Sie gerät in das Chaos eines Luftangriffs auf den Bahnhof und die Stadt Fulda mit vielen Toten, berichtet darüber aber sehr sachlich und ist in keiner Weise traumatisiert. Sie sorgt sich vielmehr um ihr Weiterkommen in der Schule und erbettelt sich vom Vater den Zirkel aus seinem großen Zirkelkasten.

Elke Lange-Helfrich entließ mit Ihrem kraftvollen Saxophon und Kosma/Mercers „Autumn Leaves“ das Publikum in die Pause.























Der zweite Teils des Abends widmete sich Briefen prominenter Autoren.

Elke Lange-Helfrich trug zunächst Louis Amstrongs unverwüstlich optimistisches „What a Wonderful World“ vor.

Dann lasen Dr. Michael Rettinger und Hans Georg Schrey aus dem Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig.
Der Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth gibt Zeugnis für die typischen Bedrängnisse, mit denen sich deutschsprachige Autoren im Exil auseinandersetzen mussten. Joseph Roth etwa hatte nie genug Geld, er hatte gesundheitliche Probleme, die Exilsituation erschwerte ihm das Arbeiten und wie viele andere musste er sich auch um „Papierkram“ kümmern, Stichwort Aufenthaltsvisum. Aber natürlich ist da auch das Leiden des schriftstellernden Künstlers, dessen Sprache im Land ihres Exils nicht gesprochen wurde. Viele durchlitten existentielle Krisen, da sie das Gefühl haben mussten, nicht nur ihr Land, sondern mit diesem auch ihre Sprache verloren zu haben. Wer sollte noch ihre Werke lesen? Wie werden sich die Verlage in Deutschland verhalten und welche im Ausland konnte man ansprechen? Wie viele Leser konnten diese Verlage erreichen und – konnte man davon leben? Der Briefwechsel zwischen Zweig, dem kultivierten und privilegierten Wiener, und dem aus der Provinz Ostgalizien stammenden Roth, spiegelt viele dieser Aspekte des Exillebens. Es ist wahrscheinlich der unsteten Lebensweise Roths geschuldet – er lebte eigentlich nur in Hotels –, dass die meisten der Briefe Zweigs als verloren gelten müssen. Dennoch zeichnet die erhaltene Korrespondenz ein ziemlich genaues Bild der Zeit und der durch den Krieg verursachten Lebensumstände der Exilanten. Der Vortrag der beiden mit getrennten Sprechrollen gab diese Problematik eindrucksvoll wieder. Gottfried Benn war ein leidenschaftlicher und sehr produktiver Briefeschreiber, er hat tausende versandt und erhalten.
Helmut Regenfuß wählte aus den vielfältigen Themen Briefe aus, die das fragwürdige Verhältnis des Dichters zu den Nationalsozialisten und sein abwechslungsreiches Liebesleben beleuchteten. Die Briefe dieses großen deutschen Lyrikers des 20. Jahrhunderts zeigen, wie sehr es auch bei bedeutenden Persönlichkeiten menschelt.





Elke Lange-Helfrich präsentierte mit Ella Fitzgeralds Lied „Blue Skies“ auf dem Saxophon ein zeitgemäßes Stück.

Als Abschluss gab es noch etwas Besonderes. Karin Schrey trug aus „102 Gedichte aus dem Gefängnis“ von H? Chí Minh vor. Diese Gedichtsammlung wurde von H? Chí Minh vom August 1942 bis zum September 1943 in chinesischen Gefängnissen auf Chinesisch geschrieben. In der Sprache der Poesie beschrieb er sein Leben im Gefängnis und sein Streben nach Freiheit.
Anhand der Schriftzeichen des Gedichts „Wortspiel“ stellt H? Chí Minh den Zusammenhang zwischen dem Menschen als Person und der Gesellschaft her, in der er lebt und wie sie mit dem Einzelnen umgeht; auch, dass der Begriff der Nation mit Zuverlässigkeit und Fürsorge einhergehen muss. Dann öffnen sich die Gefängnisse, und "der wahre Drache fliegt heraus". Hans Kärcher und seine Tochter Anna hatten die Schriftzeichen auf DIN A 4 groß gedruckt, damit die Zuhörer eine Vorstellung von diesen Zusammenhängen bekommen konnten.

Kurt Weills „Meckie Messer“ rundete das musikalische Rahmenprogramm auf Elke Lange-Helfrichs fetzigen Saxophon ab.

Karin Schrey bat die Mitwirkenden auf der Bühne, die den Beifall des Publikums entgegennahmen und verabschiedete Mitwirkende und Gäste.

Das nächste Programm des Literaturforums widmet sich einigen Misstönen der Literatur
und bietet seinen Besuchern unter dem Titel:
„Skandale in der Literatur, Theaterdonner im Elfenbeinturm“
ein interessantes und inspirierendes Programm.
Am 25. Mai 2023, um 19:30 Uhr, Einlass an 19:00 Uhr, im KUHtelier, Burg-Gräfenröder-Straße 2, Groß-Karben

Helmut Regenfuß