Literaturforum Karben e.V.


Der Karbener Literaturtreff


Bericht vom 3. virtuellen Treffen des Karbener Literaturforums:

Obere Reihe: Rosi Kärcher, Dr. Michael Rettinger, Almut Rose, Dieter Körber
Untere Reihe: Helmut Regenfuß, Barbara Metz, Annette Wibowo

Das Literaturforum Karben e. V. berichtet von seinem dritten virtuellen Literaturabend.
Seuchen in der Literatur
Donnerstag 27.Mai 2021
Beginn 19:30 Uhr, Ende 21:30 Uhr
Mitwirkende: Dieter Körber, Almut Rose, Rosi Kärcher, Hans Kärcher, Dr. Michael Rettinger, Barbara Metz, Annette Wibowo, Helmut Regenfuß, Martina Riedel am Klavier.
Ca 35 Besucher

Der Vorsitzende Dieter Körber begrüßt die Gäste zum dritten coronabedingt virtuellen, digitalen Literaturabend und Martina Riedel, die das ernste Thema durch ihr schwungvolles Klavierspiel auflockerte. Es gelang nicht zuletzt wieder durch die umsichtige technische Organisation von Hans Kärcher.

Gekonnt und kompetent gibt die Pharmazeutin Almut Rose einen kurzen Überblick über die durch Bakterien und Viren verursachten Pandemien von der Steinzeit bis heute und ihre verheerenden Folgen. In diesem kleinen Ausflug in die Geschichte wirft sie einen Blick auf die deutsche Umgangssprache wo sich über die Jahrhunderte Ausdrücke erhalten haben wie: "Wir wünschen jemand die Pest an den Hals", "Etwas breitet sich aus wie die Pest" oder " hier stinkt's wie die Pest".

Almut Rose, der die Organisation und Gestaltung des Programms oblag, übernahm gut gelaunt und mit heiterem Charme die Moderation des Abends. Sie betont, dass sich auch die Literatur diesem Sujet gewidmet hat und leitet über zu dem Humanist und Dichter Giovanni Boccaccio, der im 14. Jahrhundert festhielt, was er auf den Straßen von Florenz beobachtete und seine 100 Novellen in diesen Bericht einbettete. Sein "Decamerone" sollte Vorbild für viele spätere Novellensammlungen werden.

Hans Kärcher legt es mit gut gewählten Zitaten dar. Das Verhalten der Behörden und Bürger hat sich bis heute nicht viel geändert. Während die Armen in Florenz sterben, flüchten zehn Junge Leute der Oberschicht auf ihr Landgut und vertreiben sich die Langeweile durch Erzählen teils skurriler, teils erbaulicher Geschichten. Die begeisterte Gartenliebhaberin Rosi Kärcher hat sich den "Basilikumtopf" ausgesucht, der sie schon als junge Frau begeisterte und noch heute muss sie an diese Geschichte und Elisabethas unglückliche Liebe denken, wenn sie auf ihrer Küchenfensterbank das Basilikum stehen sieht. Boccaccios Geschichten sind manchmal derb und obszön, und die Kleriker kommen bei ihm schlecht weg. Als Beispiel für so eine Geschichte hat sich Hans Kärcher zum Abschluss die zehnte Novelle des dritten Tages herausgesucht, in der ein in der ägyptischen Wüste lebender Mönch einem vierzehnjährigen Mädchen erläutert, wie man "den Teufel in die Hölle" schickt. Die Geschichte sei ihm das erste Mal vor sechzig Jahren als Abiturient über den Weg gelaufen, als sein Deutschlehrer vorschlug, zum Decamerone des Boccaccio zu greifen, falls sie einmal etwas "Aufklärerisches" lesen wollten. So etwas dürfe er im Unterricht nicht behandeln. Das war die damalige Art des Sexualkundeunterrichts! Die von Hans Kärcher ausgewählte Geschichte ist ein Beispiel für Boccaccios Lust am Schreiben erotischer Geschichten. Mit unbewegter Miene zitiert Hans Kärcher Boccaccio und die staunenden Zuhörer erkennen, dass sich auch hier offensichtlich nichts geändert hat.

Martina Riedel hat passend zu Thema das klangvolles Klavierstück "Transformation" von Anne Terzibaschitsch ausgesucht. Sie spielt mit gewohnter Verve und lässt aufatmen.

Dann wird von Dr. Michael Rettinger Edgar Allan Poe vorgestellt. Poe wurde am 19. Januar 1809 in Boston geboren, er wurde nur 40 Jahre alt. Poe hinterließ ein breit gefächertes Werk, das Gedichte, Kriminalerzählungen und vor allem Horror- und Schauerliteratur umfasst. Auch in der Populärkultur erlangte er Kultstatus, als in den 1960er Jahren der Regisseur Roger Corman seine Horrorgeschichten verfilmte. Poes "Die Maske des roten Todes" erzählt von Graf Prospero, der sich mit seinen Anhängern in einer Abtei verschanzt, um einer fürchterlichen Seuche, dem "Roten Tod", zu entkommen. Während die Menschen vor den Mauern durch die Seuche dahingerafft werden, feiert Prospero überschwängliche Feste, deren Extravaganz im krassen Gegensatz zum Elend des Volkes steht. Letztendlich aber hält auch der Rote Tod Einzug in die prächtigen Räume der Abtei, und Prospero wie auch alle anderen müssen sterben. Poes Erzählung kann als eine Allegorie auf die Hybris des Menschen gelesen werden. Dr. Michael Rettinger zitierte gekonnt die Textstellen, die in ihrer morbiden Symbolik den Leser auch heute noch erschauern lassen.

Der Medizinhistoriker Thomas Rütten hat in einem Beitrag zu den "Thomas-Mann-Studien" des Jahres 2005 erklärt, dass die 1912 publizierte Novelle "Der Tod in Venedig" die "beste gedruckte Informationsquelle zur Choleraepidemie im Venedig des Jahres 1911" sei. Thomas Mann der 1911 im Mai Venedig besuchte, fuhr damals sofort nach Hause, um der Gefahr einer Infektion zu entgehen.

Barbara Metz liest diese Novelle wie ein Berichterstatter von damals, eindringlich und pointiert. Die klug gewählten Zitate lassen die homoerotische Liebesgeschichte völlig außen vor und zeigen wie kunstvoll Thomas Mann seine Leser in die beklemmende Situation der Stadt und der geschilderten Charaktere einführt.

Nach all diesen Elendsbildern spielt Martina Riedel mit Anne Terzibaschitschs schwungvollem Arrangement von G.Gershwins "I got rhythm" gerade recht und leitet über zu

Kurt Tucholskys "Rezepte gegen die Grippe". Er erklärt, die Dauer einer gewöhnlichen Hausgrippe komme bei ärztlicher Behandlung auf drei Wochen, ohne ärztliche Behandlung auf 21 Tage. Bei Männern trete noch die sogenannte ›Wehleidigkeit‹ hinzu; mit diesem Aufwand an Getue bekämen Frauen Kinder. Das Hausmittel Cäsars gegen die Grippe sei Lorbeerkranz-Suppe gewesen; das Palastmittel Vanderbilts sei hingegen Platinbouillon mit weich gekochten Perlen gewesen. Annette Wibowo liest hintergründig lächelnd, aber mit ernster Stimme diesen, in der Vossischen Zeitung von 1931 herausgegebenen Text, den sie in dem im Jahr 2020 erschienenen Buch "Grippe, Cholera und Pest" herausgegeben von Dieter Kiepenkracher, gefunden hatte. Gerade in Zeiten der Virus-Pandemie erhalten diese literarischen Nachweise über bereits vergangene Seuchen erneut Interesse. Es ist das Unbekannte, nicht sichtbare dieser Erkrankungen, das ein ewig währendes "Schreckgespenst" der Menschheit bleibt. Trotz aller technischen Neuerungen und Digitalisierungsfortschritten hält die Viruserkrankung die Menschheit seit Jahrhunderten im Bann und lässt sie nicht los.

Dieter Körber stellt den aus Algerien stammende Albert Camus vor, der mit nur 44 Jahren bereits den Literaturnobelpreis erhalten hat, er schrieb 1947 seinen erfolgreichsten Roman "Die Pest." Zu Beginn der Covid-19-Pandemie 2020 war "Die Pest" überall ausverkauft. Körber erzählt kenntnisreich von den wichtigen Stationen im Leben des Philosophen und Poeten, seiner Krankheit, seiner Erfolge und seinem Zerwürfnis mit Jean-Paul Sartre 1952. Die krönende Anerkennung folgt mit dem Nobelpreis für Literatur 1957 und dann der tragische Unfalltod 1960. Der Charakter des Werks von Albert Camus lässt sich mit dem Ausdruck "Denken in Bildern" zutreffend beschreiben. Albert Camus hat das "Absurde" erkannt und zum Angelpunkt mehrerer Dramen und Romane gemacht. Das Absurde liegt für ihn nicht in der Welt und nicht im Menschen, es ergibt sich aus der Konfrontation des Menschen mit der Welt. Da Camus jede metaphysische Deutung und jeglichen Glauben ausschaltet, ist der Mensch ganz auf sich gestellt. Das Innewerden des Absurden erzeugt gleichwohl die Revolte. Dieser Aufstand ist nicht nur als philosophische Haltung zu verstehen, sondern als tätiger Kampf gegen das Unrecht in der Welt - wann und wo immer es geschieht. Dieter Körber hat aus dem Roman "Die Pest" eine Scene gewählt, deren Aktualität verblüfft. Die Offiziellen der Stadt Oran, in welcher der Roman spielt, verharmlosen die Gefahr der Seuche, bestreiten, dass es sich um die Pest handele, und wollen erst einmal abwarten. Trotz der Warnungen vom Protagonisten des Romans dem Arzt Dr. Rieux, der vor einem Massensterben warnt. Es ist kein Serum vorhanden, es wurde nicht vorgesorgt. Körber lässt lesend die Agonie und Feigheit vor der Verantwortung in der Diskussion realistisch werden.

Helmut Regenfuß nimmt uns nun zum Abschied mit in die Provence, wo der Dichter Jean Giono lebte und alle seine Romane spielten. 1951 sprengte er den bisherigen Rahmen seiner Werke und wagte etwas Neues: einen Schelmenroman. "Der Husar auf dem Dach" wurde ein großer Erfolg, er gilt als sein größtes Werk und ist das Einzige, das heute noch populär ist, nicht zuletzt dank der erfolgreichen Verfilmung. Er erzählt die Geschichte von Angelo Pardi, einem jungen Aristokraten und Oberst der Husaren, der den Carbonari angehört. Um 1832 muss er aus seiner Heimat Piemont flüchten, nachdem er in einem Duell einen österreichischen Offizier getötet hat. Der Roman schildert die Reise eines jungen wagemutigen Italieners durch das von der Pest gelähmte ländliche Frankreich. Er lernt auch eine junge Französin kennen und lieben, der Text endet aber tragisch. Helmut Regenfuß stellt die ausgewählten Texte eindringlich vor, sein emphatischer Vortrag lässt die geschilderten Scenen lebendig werden.

Zum Ausklang dieses interessanten und gelungenen Abends spielt Martina Riedel am Piano "The river flows in you" von dem südkoreanischen Pianisten Yiruma bekannt aus "Twilight".


Der Vorsitzende Dieter Körber dankt den Mitwirkenden und Gästen und lädt ein zum nächsten

virtuellen, digitalen Literatur-Abend am Donnerstag, 17.Juni 2021, 19:30Uhr,
zuschaltbar ab 19:00Uhr,
unter dem Titel "Literatur der ehemaligen DDR"
auch erinnernd an den damaligen "Tag der Einheit".

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Almut Rose