Literaturforum Karben e.V.


Bericht von einem gelungenen virtuellen Literaturprogramm:

Marcel Reich-Ranicki - ein Leben für die Literatur



Obere Reihe: Helmut Regenfuß; Hans Kärcher: Nicola Piesch.
Mittlere Reihe:Barbara Metz, Dieter Körber; Dr. Michael Rettinger; Robert Axt.
Untere Reihe: Ingrid Axt.





Das Literaturforum Karben e. V. berichtet von seinem zweiten virtuellen Literaturabend.
Donnerstag 29.April 2021
Beginn 19:30 Uhr, Ende 21:30 Uhr
ca. 30 Besucher


Der Vorsitzende Dieter Körber, begrüßt die Gäste zum coronabedingt virtuellen Versuch den schwierigen Zeiten einen interessanten Literaturabend abzutrotzen. Zu unserem zweiten Literaturabend durften wir eine ansteigende Zahl von Gästen begrüßen. Nicola Piesch lockerte das Programm auf und bereicherte es durch ihren Gesang. Der Abend gelang nicht zuletzt durch die umsichtige technische Organisation von Hans Kärcher.

Der Moderator Helmut Regenfuß stellt den wohl einflussreichsten deutschen Literaturkritiker der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Marcel Reich-Ranicki vor. Bekannt als der "Literaturpapst" stand er immer im Mittelpunkt der literarischen Diskussion. Seine Verrisse und seine Lobreden zeichnen ein lebendiges Bild der Literaturgeschichte dieser Zeit. An diesem Abend sollen beide Seiten - der Kritiker und die Autoren - zu Wort kommen. An Hand klug ausgewählter Zitate zeichnet Helmut Regenfuß das Leben Marcel Reich-Ranickis nach und leitet dann über zu: Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, zwei Unbequeme von Rang. "Günter Grass versus Marcel Reich-Ranicki: Soll man das Verhältnis der beiden Literaturgrößen eine Hass-Liebe nennen? Ihre Kontroverse hat in einem hohen Maße das Interesse an Literatur verstärkt. Es wurden Lesemuffel zum Lesen gebracht. Sprachschöpfend der eine, originell und klar verständlich kritisierend der andere haben sie viel für die Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts getan. Bereits ihr erstes Zusammentreffen war unglücklich und hat fortgewirkt im Verhältnis der Beiden."

Dieter Körber gibt Rückblicke auf die nicht immer freundschaftliche Beziehung von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Zwei Größen der Literatur, Kritiker der eine, Autor der andere. Körbers Gestus und die Verve seines Vortrages lassen Marcel Reich-Ranicki lebendig werden. Auf der einen Seite Marcel Reich-Ranicki ein scharfzüngiger Kritiker, dessen Urteil gefürchtet war, der es aber auch wie kein Zweiter verstand, für große Bücher zu begeistern: Er konnte mit Worten Berge versetzen, aber gelangweilt hat er sein Publikum nie. Wir blicken erstaunt und bewundernd auf das Leben Marcel Reich-Ranickis dieses Büchermenschen und Musikliebhabers: von der Hölle des Warschauer Gettos aufgestiegen zum wichtigsten Literaturkritiker der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Literarischen Quartett hat er auch noch Fernsehgeschichte geschrieben.
Zum anderen Günter Grass vom 17 jährigen Panzerschützen der SS, über amerikanische Kriegsgefangenschaft und Steinmetzlehre, Kunstschule für Bildhauerei und Grafik und Hochschulstudium für Bildende Künste aufgestiegen zum Olymp der auserwählten Dichter, mit dem Nobelpreis belohnt. Die beiden waren sich mit einer eigentümlichen Hassliebe verbunden, die Günter Grass später einmal als eine Art Ehe bezeichnet hatte von der es keine Scheidung gibt. Schon der Beginn ihrer Bekanntschaft Reich-Ranicki - Grass war gelinde gesagt etwas unglücklich. Reich-Ranicki lernte Grass bereits 1958 in Polen kennen. Über den Verlauf dieser ersten Begegnung liefern beide völlig unterschiedliche Berichte. Auf Reich-Ranicki konnte sich Grass nie verlassen. Reich-Ranicki hat sich nicht einem bestimmten Autor mit Sympathie und Unterstützung zugewandt oder ihn gänzlich abgelehnt, nein er hat Text für Text einzeln gewertet. So gab es beim selben Autor*in sowohl Lob als auch Verrisse. Grass tat sich schwer, damit umzugehen.

Das eben Gehörte untermalt Nicola Piesch mit dem Song "So oder so ist das Leben" Ihre angenehm modulierende Stimme kommt auch virtuell sehr gut "rüber". Erstaunlich, wie sie ohne großes Equipment, von zu Hause agiert.

Souveräner Umgang eines Dichters mit seinen Kritikern
MRR schreibt in seinen Erinnerungen: Was ein Autor von einem Kritiker hält, hängt davon ab, was dieser Kritiker über ihn, zumal über sein letztes Buch, geschrieben hat. Ich habe noch nie einen Schriftsteller kennengelernt, der nicht eitel und nicht egozentrisch gewesen wäre - es sei denn, es war ein besonders schlechter Autor. Hans Kärcher zeigt nun am Beispiel eines Briefwechsels zwischen Thomas Bernhard und dem Verleger Siegfried Unseld aus dem Jahr 1967, dass es auch anders geht. Hans Kärchers trockener, distanzierter und so gar nicht bewertender Vortrag zeigt wunderbar den Gegensatz zu den beiden vorherigen "Feuerköpfen". Ein kurzes Zitat soll das verdeutlichen:
Unseld "…..Aber lassen wir den Kritikern ihren Übermut. Die Hauptsache ist, daß Sie sich davon nicht beeindrucken lassen. Mein Glaube an Sie als Autor ist unerschüttert…….." Bernhard "…. Ich finde, die Kritiker, ob dumm oder nicht, haben sich von meinem Buch (Verstörung) aufregen lassen, das ist der Sinn eines solchen Buches. Wie Sie ja wahrscheinlich, sicher wissen, gibt es ja überhaupt nur dumme, darunter aber verheerend ganz dumme Kritiker. Ich weiß das und die Kost verdirbt mir nicht den Magen, wichtig ist nur, wie und in welchem Rahmen die Kritikerdummheit aufgetragen wird, das Besprechungsmenu, das auf eine Veröffentlichung folgt …". Erwähnt sei auch noch Martin Walser, der so verärgert war, dass er 2002 sein umstrittenes Buch "Tod eines Kritikers" schrieb.

"Ich hätte nie das Buch freiwillig gelesen!" so Marcel Reich-Ranicki über Peter Handke. Mit diesem Zitat leitet Helmut Regenfuß über zu Dr. Michael Rettingers Vortrag: Wenn es einen Autor gab, mit dem MRR nichts anzufangen wusste, so ist es Peter Handke. Umso lästiger für ihn, dass Handke nicht als Modeerscheinung schon bald in Vergessenheit geriet, sondern sich als international anerkannter Autor etablierte. MRR sah sich gezwungen, Handke immer wieder - widerwillig - zu besprechen. Als Handke 2019 den Nobelpreis erhielt, war MRR allerdings schon 6 Jahre tot. Dr. Michael Rettinger zeigt brillant mit akribisch ausgesuchten Zitaten aus Zeitungsartikeln und literarischem Quartett, wie diese gegenseitige Abneigung 1966 in Princeton bei der Jahrestagung der legendären Gruppe 47 begann. Handke provozierte mit seiner Wortmeldung einen handfesten Skandal, denn seine grundsätzliche Kritik stellte alles infrage, was er während der Tagung gehört hatte. Reich-Ranicki hat immer wieder gesagt, wonach er in guter Literatur sucht: nach "Natürlichkeit", "Durchsichtigkeit", "Klarheit", Literatur ist für ihn etwas "Entstandenes", nichts Gemachtes.
Handke ist ein sehr verkopfter Literat, der über die Sprache ständig reflektiert. Das einfache, unreflektierte Beschreiben, gerade jene von Reich-Ranicki eingeforderte Natürlichkeit, ist für ihn läppisch und idiotisch. Marcel Reich-Ranicki besuchte am Ende seines Lebens viele Schriftsteller, die mit ihm verfeindet waren, um sich zu versöhnen. Handke besuchte er nicht. Handke dazu im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: "….. Er ist überhaupt kein Problem mehr für mich. Es ist nichts zu versöhnen.

Es ist vorbei. Ich bin der, der dies gemacht hat, und er ist der, der das zusammengeschustert hat. […] Er lebe in Frieden. Ich sage das ganz ernsthaft."

Nach diesem Bericht von heftigen Wortgefechten und Verunglimpfungen tut es gut Nicola Piesch nach zu träumen mit "Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt.."

Ein großer Autor des 20. Jahrhunderts darf nicht fehlen. Helmut Regenfuß führt Ingrid und Robert Axt ein, die sehr ausdrucksvoll aus "Lauter schwierige Patienten" gekürzte Auszüge aus dem Abschnitt vortragen, der Bertolt Brecht gewidmet ist. (Gespräche zwischen dem SWR-Intendanten Peter Voß und MRR über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts)
Robert Axt als MRR überrascht mit der, der landläufigen Meinung völlig entgegenstehenden Aussage, dass Bert Brecht überhaupt kein politischer Mensch gewesen sei. Politische Themen hätten ihn nur als ideologisches Fundament für seine dramatischen Theaterstücke interessiert.
Den Kommunismus habe er nur gebraucht, da man ihn 1954 in Ostberlin als künstlerischen Leiter des dortigen Theaters habe wirken lassen. Politik sei für ihn Mittel zum Zweck seiner literarischen Karriere gewesen. Am Ende des Gesprächs würdigt MRR Bert Brecht für seine wunderbaren lyrischen Gedichte, die seine didaktischen und wohl auch überholten Theaterstücke überdauern würden.

Das letzte Interview von Reich-Ranicki mit dem Fokus, geführt von Uwe Wittstock.
Ruhig und zurückhaltend interviewt Barbara Metz als Uwe Wittstock Marcel Reich-Ranicki - perfekt dargestellt von Dieter Körber. Er ist buchstäblich MRR. Wir erleben Marcel Reich-Ranicki in einer fast elegischen Stimmung und den Tod als höchst unwillkommenen Besucher erwartend und seine Einstellung zu Gott, an den er nicht glaubt. Ein Jenseits gibt es aus seiner Sicht nicht und von daher ist es für ihn unsinnig, sich damit zu beschäftigen. Auch die Beschreibungen in der Weltliteratur vom Leben nach dem Tode
sind für ihn kein Beleg, dass die jeweiligen Dichter tatsächlich an ein Leben nach dem Tode glaubten.
Die beste Darstellung eines Menschen in der Situation der Toderwartung findet er in Leo Tolstois Erzählung "Der Tod des Iwan Iljitsch". Das Wichtigste in seinem Leben sei für ihn die Liebe gewesen, die Liebe zur Literatur, Musik, meiner Familie, meiner Frau nicht immer in dieser Reihenfolge.

Helmut Regenfuß, der sehr souverän durch das Programm geführt hat, beschließt das anspruchsvolle Programm und Dieter Körber spricht noch einige Abschiedsworte.

Das nächste Literaturprogramm "Seuchen in der Literatur" führen wir wieder virtuell auf der Basis von ZOOM,
am Donnerstag, 27. Mai 2021, durch.
Gäste melden sich über das Anmeldeformular auf unserer Homepage an.
www.literaturforum-karben.de dann den Link "Aktuelles Programm"
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Wir senden Ihnen sodann um den 19. Mai 2021 einen Zugangscode, mit dem Sie sich zuschalten können.

Almut Rose