Karbener LiteraturTreff e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 25 April 2019:
Die zweite Haut - Kleidung als Ausdruck der Persönlichkeit,
ein literarisches Kaleidoskop
Ort: KUHtelier, Groß Karben, im Schlosshof von Leonhardi
Zeit: 19:30 - 22: 30 Uhr
Anwesende: ca. 55 Personen und Pressevertreter
Die zweite Vorsitzende Karin Schrey begrüßt die Besucher in Vertretung des
erkrankten 1.Vorsitzenden Dieter Körber und stellt die junge Musikerin Kim Müller
vor. Diese studiert zur Zeit Philosophie und möchte später möglichst als
Musiktherapeutin arbeiten. Sie wird den Abend mit eigenen Songs zur Gitarre
musikalisch begleiten und beginnt mit einer ruhigen Ballade: "This Pain".
Karin Schrey schlägt in ihrer Moderation einen weiten Bogen von Annette v.
Droste-Hülshoff mit deren Satz "Man darf zwar anders denken aber sich nicht
anders kleiden als seine Zeit" über "Angströhren", "Liebestöter", die
"Unaussprechlichen" und den "Cul de Paris" zum "Rock" der Uniformierten,
der keiner ist und stellt dann die Frage ob in unserer liberalen Zeit die
"schönste Nebensache der Welt" wirklich unwichtig geworden ist.
Die zweite Haut… schon dieser Titel impliziert ja, dass es da auch eine erste
geben muss…und mit der beginnen wir.
"Es war einmal ein Kaiser der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, dass
er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein." So beginnt Hans
Christian Andersen 1837 seine Geschichte von "Des Kaisers neuen Kleidern".
Hans Kärcher liest uns sehr überzeugend das Märchen von den betrügerischen
Webern vor, die behaupten, sie verstünden das schönste Zeug zu weben, was man
sich denken könne. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich
schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die
wunderbare Eigenschaft besitzen, dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien,
der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.
So lobten alle die wunderbaren Kleider bis endlich ein kleines Kind rief:
"Aber er hat ja gar nichts an!" "Hört die Stimme der Unschuld!" sagte der
Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.
"Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff
den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich:
‚Nun muss ich aushalten.' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe,
die gar nicht da war.
Gekonnt leitet Karin Schrey zu Gottfried Kellers "Kleider machen Leute" von 1874 über.
Der Mantel….diesem Begriff begegnen wir öfter in der Literatur. Er ist etwas
Besonderes: das äußere Kleid, quasi die dritte Haut. Er ist Zeichen der
Herrschaft (Krönungsmantel) wie Zeichen der Barmherzigkeit (der Heilige Martin).
Wir be-und ummänteln etwas, was wir verstecken, verleugnen oder schützen wollen;
mit dem Mantel verbinden wir so gegensätzliche Begriffe wie Anspruch und Scham,
stolzes Repräsentieren und schüchternes Verhüllen. Doch kann ein Mantel die
wahre Persönlichkeit nur verdecken - irgendwann kommt sie ans Licht.
Claudia Weishäupl liest sehr einfühlsam die Novelle vom emotionalen
Schneidergesellen Wenzel Strapinski, der nichts besitzt außer eine Garnitur
edler Kleider auf die er sehr achtet. Als er aus dem armen Ort Seldwyla ins
reiche Goldach kommt wird er dort wegen dieser Kleider für einen Grafen gehalten.
Sein Leben ist von äußeren Umständen bestimmt und auch in Goldach verstrickt er
sich gegen seinen Willen in eine Lügengeschichte, bis er schließlich entlarvt wird.
Und nun wieder Musik. Kim Müller singt gefühlvoll ihr "Freaking out".
Wie keine andere Kleidung machen Uniformen den Menschen zu etwas Besonderem.
Den Rock des Kaisers zu tragen, bedeutete Ehre - allerdings nur für den Rock.
Nicht für den Menschen, der darin steckt.
Helmut Regenfuß liest mit komödiantischem Talent einige Szenen aus Carl
Zuckmayers Stück "Der Hauptmann von Köpenick", das von 1931 - 33 mit großem
Erfolg über die deutschen Bühnen ging und dann von den Nazis verboten wurde.
Zunächst Anprobe der neuen Hauptmannsuniform. Die Gesäßknöppe haben nicht den
richtigen Abstand.
Schneider Wabschke:" Meine Rede, Herr Hauptmann, meine Rede! Was sag ich immer?
Der alte Fritz, der kategorische Imperativ und unser Exerzierreglement, das
macht uns keiner nach! Das und die Klassiker, damit hammer's geschafft in der Welt!"
Aber der Hauptmann hat Pech. Er muss den Dienst quittieren. Der Hauptman zieht
die korrigierte Uniform ein letztes Mal an und der bucklige Schneider Wabschke
bewundert sein Werk selbst gebührend:
"Herr Hauptmann. Det is keen Rock mehr, det is 'n Stick vom Menschen.
Det is de bessere Haut, sozusagen."
Diese Uniform landet letztendlich beim Trödler und dort ersteht sie der
Schustergeselle Wilhelm Vogt.
Er will mit ihrer Hilfe im Rathaus von Köpenick einen Pass für sich ausstellen
lassen um endlich wieder ein ehrliches Leben führen zu können. Doch Köpenick hat
kein Passamt und so stellt er sich der Justiz.
Ach ja, früher war alles besser - oder? Stefan Zweig konnte im Rückblick auf
die Mode seiner Jugend nur den Kopf schütteln. Steif, gekünstelt, zugeknöpft,
heuchlerisch, moralinsauer ebenso wie frivol. Er versteht es wie kein zweiter,
uns die Mode vor dem Ersten Weltkrieg lebendig zu beschreiben.
Annette Wibowo liest eindringlich Stefan Zweigs "Die Welt von Gestern"
In seiner 1942 nach seinem Freitod veröffentlichten Autobiografie beschreibt er
anschaulich "..die Ankleideprozedur, die ohne fremde Hilfe gar nicht möglich war.
Erst mussten hinten von der Taille bis zum Hals unzählige Haken und Ösen zugemacht,
das Korsett mit aller Kraft der bedienenden Zofe zugezogen werden, ehe man sie mit
den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und Jäckchen so lange
umbaute bis der letzte Rest ihrer fraulichen und persönlichen Formen völlig
verschwunden war……"
Mit geistreichen eigenen Einwürfen lässt Annette Wibowo die Frauen des
Kaiserreichs vor uns lebendig werden.
Nach der Pause, die bei lebhafter Unterhaltung rasch verging, erfreute uns eine
jetzt ganz lockere Kim Müller mit ihrer Vorstellung von "Galaxie".
Wie keine andere Autorin hat Irmgard Keun das Leben und den Lebenshunger der
Zwanziger Jahre beschrieben. Dieter Körber hat mit sicherem Blick für die
passenden Szenen deren Roman "Das kunstseidene Mädchen" für diesen Abend
vorbereitet. Da er erkrankt ist, liest Karin Schrey sein Referat an seiner Stelle vor.
1932 war Irmgard Keun mit dem Roman weltberühmt geworden, doch dann geriet er
in Vergessenheit und wurde erst in den Siebziger Jahren wieder entdeckt und auch verfilmt.
Mit dem Roman Das kunstseidene Mädchen ist Irmgard Keun ein kühner Schritt
vorwärts in der Erzähltechnik gelungen. Die Ich-Erzählerin lehnt es ab, ein
Tagebuch zu führen. Ein Tagebuch ist ihrer Meinung nach nicht auf der Höhe der
Zeit. "Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch
mehr so sein. [...] Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino - ich sehe
mich in Bildern." Damit trifft Keun das mächtigste Stimulans ihrer Zeit, es
prägt Bilder auf der Leinwand, und die Zuschauer möchten sich mit diesen
Bildern identifizieren. Doris verfolgt ihre Lebenspläne, wie die normierte
Unterhaltungsindustrie es sie lehrt. Sie hält sich selbst für einen
"ungewöhnlichen Menschen", will ein "Glanz" werden. Anstatt eines
Tagebuches will sie ihr eigenes Drehbuch schreiben, ein Drehbuch, in
dem sie zugleich Regisseurin, Kamera, Hauptdarstellerin und gerührte Zuschauerin ist.
In den besten Passagen des Romans erreicht Irmgard Keun eine immense
visuelle Dichte. "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun ist ein durch
pointierten Sprachwitz funkelnder tragikomischer Roman über ein ungebildetes
Mädchen mit erstaunlicher Menschenkenntnis.
"Kleider, richtig verwendet, sind die Waffen einer Frau", sagte einmal die
amerikanische Schauspielerin Raquel Welch in den 60er Jahren, "sich ausziehen
bedeutet Abrüstung". Aber da gibt es ja noch Zwischenstufen…. Der Renaissance
verdanken wir eine der wichtigsten Erfindungen in der Modegeschichte: Das Dekolletee.
"Unter einem Dekolletee versteht man einen Kleiderausschnitt, der mehr Stoff
zum Reden bietet als zum Bedecken", schmunzelte einmal ein großer Verführer im
Film: Marcello Mastroianni, und Johannes Heesters formulierte es einmal so:
"Der tiefe Ausschnitt am Kleid einer Frau bedeutet oft einen tiefen Einschnitt
im Leben eines Mannes". Alle drei Zitate treffen auf das folgende Buch zu:
Almut Rose stellt Annemarie Selinkos "Heute heiratet mein Mann" vor, das 1940
erscheint. Lange Zeit war das Buch vergriffen, jetzt wird es im Milinda Verlag wieder herausgebracht.
Thesi eine junge Modezeichnerin aus Wien erfährt beim Zahnarzt, dass ihr
geschiedener Mann wieder heiraten wird. Sofort leiht sich ein frivoles Kleid
mit langem spitzen Ausschnitt - und tatsächlich sticht sie die neue Verlobte
aus und gewinnt ihren Mann zurück. Immer wieder flicht Selinko die historischen
Ereignisse rund um 1938/39 in das vergnügliche Romangeschehen ein. Die Charaktere
sind gut gewählt: Betsy eine Amerikanerin verliebt sich in Gary, einen englischen
Lord und John ein amerikanischer Kriegsberichterstatter will Thesi heiraten.
Dann bekommt Thesi Scharlach und nach 5 Wochen Krankenhaus tatsächlich eine zweite Haut.
Wir hören Kim Müller mit "Someday morning".
Rosie Cordsen-Enslin: "Der Himmel kennt keine Günstlinge" von Erich Maria Remarque.
Sehr geschickt hat Rosie Cordsen-Enslin Edgar Hilsenraths Hommage an den Anfang
gestellt. Besser kann man die Biografie Remarques nicht bringen.
Der Roman erschien zunächst als Fortsetzungsgeschichte und 1961 in Buchform.
Der Autorennfahrer Clerfayt verliebt sich in Lillian, die unheilbar an TBC
erkrankt ist, was sie ihm nicht sagt, weil sie ihre letzten Monate genießen will.
Er verunglückt tödlich und sie stirbt in dem Sanatorium, wo sie sich kennenlernten.
Rosie Cordsen-Enslin wählt gekonnt Zitate. Sie ist beeindruckt wie gut sich
Remarque mit der weiblichen Psyche auskennt und wie er das ästhetische Verlangen
einer Frau nach schönen, luxuriösen Kleidern versteht und wunderbar zum Ausdruck
bringt. Die feinen Markenkleider sind hier keine Bagatelle und dienen nicht
allein der Eitelkeit, sondern sind wahre Freunde und Tröster für die verzweifelte
Lillian. Oder der kurze Dialog mit der Verkäuferin bei der letzten Anprobe:.
"Alle diese Kleider werden nie unmodern werden. Sie können sie für Jahre tragen.
Jahre, dachte Lillian, fröstelte und lächelte.
Karin Schrey hat als letztes Beispiel Ingeborg Bachmann: "Malina", den 1971
veröffentlichten 1.Teil einer Roman Trilogie "Todesarten" von Ingeborg Bachmann
gewählt. Professionell bringt sie Klarheit in die komplizierten Beziehungen und
arbeitet gekonnt heraus, warum sie das Buch nicht mehr zeitgemäß findet. Die
feministische Literatur ist über den darin eingenommen Standpunkt längst
hinweggegangen. Frauen müssen heutzutage nicht mehr Männlichkeit "anziehen",
um anziehend auf Männer zu wirken, um neben ihnen bestehen zu können, sie
verschwinden nicht mehr unsichtbar hinter Wänden, lassen sich nicht mehr verdrängen
und drängen sich auch nicht auf, indem sie sich nach männlichem Geschmack extra
zurechtmachen; sie haben ihren eigenen Stil, erschaffen nicht mehr die Frau in
sich nach Kleidern, die Männer ihnen aussuchen - weder buchstäblich, noch
sinnbildlich. Und wenn ihre buchstäbliche Haut runzlig wird, na, dann ist das
eben so, und ein Mann, der einem das brutal ins Gesicht sagt, um zu verletzten,
ist nicht der richtige Partner. Und dann sagt man ihm das auch. Punkt.
Anders das Ich in Bachmanns Malina:
Protagonistin ist ein weibliches "Ich", das eine Liebesbeziehung mit Ivan hat,
aber mit Malina zusammen wohnt. Dieser hat Eigenschaften, die das Ich nicht
besitzt. Nach und nach wird deutlich, dass Malina physisch gar nicht existiert,
es handelt sich bei ihm um das männliche alter ego des Ichs, geboren aus der
zunehmenden Verzweiflung und ihren Lebensängsten, ein rettender Anker, um sich
selbst im Leben zu verorten. Die Schränke des Ichs sind leer, denn nichts hat
Bestand vor den Augen der Männer, die Kleider, die sie dem weiblichen Ich
verpassen, kratzen, sie engen es ein, das Ich fühlt sich in ihnen nicht wohl.
Das Ich kauft sich selbst ein Kleid, ein "Hauskleid".
Kim Müller verabschiedet sich mit "I don't care but only you".
Karin Schrey bedankt sich bei Kim Müller mit einem Blumenstrauß für die gelungene
Premiere und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass wir sie nicht zum letzten Mal hören durften.
Karin Schrey verabschiedet die Mitwirkenden.
Unser nächster literarischer Abend findet statt am 23.Mai 2019
mit "Poeten der näheren Umgebung und Region"
Wie immer im Kuhtelier, um 19:30 Uhr
um auch berufstätigen Interessierten die Möglichkeit zu geben von Anfang an dabei sein zu können.