Literaturforum Karben e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 30. März 2023:
„Wien um die Jahrhundertwende. Die Wiener Moderne.“
Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 - 22: 00 Uhr
Anwesende: ca. 55 Besucher
Unter dem Titel „Wien um die Jahrhundertwende. Wiener Moderne“ gelang dem
Literaturforum Karben, im sehr gut besuchten KUHtelier, ein höchst interessanter
und anspruchsvoller Literaturabend. Nach der Begrüßung der Besucher, und der
Musikkünstlerin Miriam Brause
durch den ersten Vorsitzenden Dieter Körber übernahm
Almut Rose, die den Abend gestaltet und organisiert hatte, die Moderation und
führte souverän durchs Programm. Sie begann das Programm mit einer facettenreichen,
umfassenden Einführung in das Thema.
„Das Wiener Kaffeehaus als kulturelle Institution“.
Wien zählt 1900 fast zwei Millionen Einwohner und zieht künstlerische Talente
aus dem gesamten Reich an. Wien um 1900: Diese Stadt, eingeklemmt zwischen zwei
Jahrhunderten, erscheint im Rückblick als eine Art von kreativem Teilchenbeschleuniger
der Moderne.
In Musik, Malerei, Literatur, Philosophie – überall wird das Vorgefundene
demontiert, zerlegt und innovativ zusammengesetzt. Künstler und Intellektuelle
versuchen sich darin, die Umwälzungen der tradierten Ordnungen in einem neuartigen
Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen. Kein Wunder, dass zu jener Zeit mit
Sigmund Freud in Wien auch die Geburtsstunde der Psychotherapie und die Entdeckung
des Unbewussten zu datieren ist.
Oder Hermann Bahr, der Kritiker und Publizist, der jeder „Mode“ voranschritt, der
große Vermittler zwischen der internationalen Moderne und jener der Donaumonarchie-
hat sein Denken über die Moderne mitgeholfen die kreativen Höchstleistungen des
heute so gepriesenen «Wiens der Jahrhundertwende» zu ermöglichen – oder war er
einfach zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort?
Es entstehen verschiedene Gruppierungen von Intellektuellen, die sich in bestimmten
Cafés versammeln und einander inspirieren. Im Café Griensteidl nahm alles seinen
Anfang, später übersiedelte man ins Café Central und ins Café Herrenhof.
Das Café Museum war speziell bei Malern und Architekten beliebt (Klimt, Kokoschka,
Schiele, Loos, Wagner) Das Café Landtmann wurde zum Lieblingscafé von Freud.
Das Wiener Kaffeehaus ist bis heute ein wichtiges Stück Wiener Tradition und
die Wiener Kaffeehauskultur gehört seit 2011 zum immateriellen Kulturerbe der
UNESCO. Vielleicht das Musterbeispiel für einen Boheme der Wiener Kaffeehausszenerie
war Peter Altenberg, der als Figur heute noch im Café Central zu bewundern ist. Aus
einer gutsituierten jüdischen Wiener Kaufmannsfamilie stammend brach er alle Studien
bald ab, verbrachte die Tage im Kaffeehaus und die Nächte in Kabaretts. Er war Dichter
kleiner und kleinster Geschichten, die seine Begeisterungsfähigkeit ihm zutrug.
Zahllos sind die von Altenberg überlieferten Aphorismen und Bonmots wie diese
beiden, die mir besonders gut gefallen:
Zitat Gott denkt in den Genies, träumt in den Dichtern
und schläft in den übrigen Menschen.
Oder: Die Liebe ist nichts anderes als ein Seiltanz von Amateuren ohne Balancierstange und Netz.
Von dem bekannten Kritiker und Schriftsteller Alfred Polgar stammt das vielzitierte Bonmot:
„Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung,
und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen.“
Zu den sogenannten "Kaffeehausliteraten" gehörte auch Stefan Zweig, der in „Die Welt von Gestern“
rückblickend seine Jugendjahre im Kaffeehaus so beschreibt:
Junge Autoren setzten dem Naturalismus ihr bewusst zur Schau getragenes Künstlerdasein
entgegen. Dem Fortschrittsoptimismus des Industriezeitalters begegneten sie mit einem
entschiedenen Kulturpessimismus. Sie verkörperten den subjektiven Weltschmerz einer
Endzeitstimmung („Fin de siècle“) wie der junge Hofmannsthal, oder analysierten, wie
Schnitzler, psychologisch die Dekadenz der späten Wiener Aristokratie und Bourgeoisie.
Kann man denn Wirklichkeit überhaupt noch erkennen und sprachlich darstellen, muss
Wahrheit nicht durch eine innere Erfahrung „erfühlt“ werden, in der erst der hinter
den Dingen liegende Sinnzusammenhang sichtbar wird?
Gemeinsam war den Kaffeehausliteraten die Ablehnung der naturalistischen Dichtungsauffassung,
der Zweifel an der Möglichkeit, mithilfe von linearen und kausal motivierten Geschichten die
komplexe Wirklichkeit der modernen Gesellschaft darzustellen.
Dabei wird eine zunehmende Verselbständigung von Sprache in der Dichtung sichtbar,
die oft expressiven und experimentellen Charakter hat.
Aber was wäre ein Kaffeehaus ohne Kaffeehausmusik?
Und was ist denn nun Kaffeehausmusik?
Sie umfasst alles, was unterhält und nicht aufdringlich ist und je nach Zeit
und Ort kann das munterer Jazz, Weltmusik wie Tango oder auch leichte klassische Musik sein.
Der bekannteste unter den Kaffeehausbesuchern dürfte wohl, wenn auch ca. 125 Jahre
früher, Wolfgang Amadeus Mozart gewesen sein. Nicht nur, dass Mozart oft eines der
zahlreichen Konzerte im Wiener Kaffeehaus besuchte, er vertrieb sich außerdem gerne
die Zeit beim Billard und Spielereien im Kaffeehaus.
Die Musikkünstlerin des heutigen Abends Miriam Brause spielt zum Auftakt auf ihrem
Saxophon von D E M österreichischen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart das Rondo
in D. Typisch ist hier der leichte, lustige Charakter,
der aber immer in einer kurzen Moll-Passage einen Ausflug ins Schwermütige macht
und so einen Gegensatz schafft. Danach ging es rasch weiter mit dem literarischen Auftakt:
Den Physiker Ernst Mach (1838-1916) würde man zunächst nicht in einer Literaturveranstaltung
erwarten. Tatsache aber ist, dass er mit seinem Werk „Die Analyse der Empfindungen
und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“ eine nicht zu überschätzende Wirkung
auf Kunst und Literatur ausübte, insbesondere in Wien um 1900. Mit der 2. Auflage des
Werkes (1900) begann der Siegeszug seiner in diesem physikalischen Werk entwickelten
Philosophie, die sich radikal von aller traditionellen Metaphysik lossagte und die dort
verhandelten Probleme als Scheinprobleme brandmarkte. Der Satz, der in die Kunst- bzw.
Literaturgeschichte einging, lautet:
„Das Ich ist unrettbar!“ Was dieser pathetische
Ausruf des Physikers eigentlich bedeutet und wie sich Machs Grundgedanke in der Kunst
im Wien der Jahrhundertwende manifestierte, das erörterte Dr. Michael Rettinger
sehr kompetent anhand zahlreicher Zitate.
Auch Johannes Brahms, per se kein österreichischer Komponist, hat sich im Laufe
seines Lebens in Wien verliebt und Wien sich in ihn. Er lebte dort in seiner
zweiten Lebenshälfte und lernte dort auch den Violinisten Eduard Reményi kennen,
durch dessen Einfluss er die ungarischen Tänze schrieb. Sie sind bis heute nicht
aus der klassischen Unterhaltungsmusik wegzudenken.
Wir hörten Johannes Brahms,
Ungarischer Tanz Nr. 5 als Saxophonadaption. Mitreißend gespielt von Miriam Brause.
Die ungarischen Tänze erinnern uns daran, dass die Donaumonarchie, wie der Bund aus
Österreich und Ungarn auch genannt wurde kriselte. Die Gesellschaft entfernte sich
immer mehr von einem freiheitspolitischen Streben und es profitierten vor allem
antisemitische, nationalistische und konservative politische Kräfte.
Arthur Schnitzlers Novelle „Lieutenant Gustl“, die Annette Wibowo nun gekonnt
vorstellte, wurde bei ihrer Erstveröffentlichung Ende des 19.JH als Angriff auf
die unantastbare Ehre der kaiserlichen und königlichen Armee und somit auf eines
der Fundamente der Doppelmonarchie verstanden. Sie goss aufgrund der Person des
Autors und des Herausgebers indirekt auch Öl ins Feuer der antisemitischen Hetze.
Der jüdische Autor und die
„Judenpresse“, angeführt von Moriz Benedikt, dem Chef der Neuen Freien Presse,
wurden als Staatsfeinde ausgemacht und gebrandmarkt. Schnitzler, selbst Oberarzt
und Leutnant der Reserve, galt als Nestbeschmutzer und wurde infolgedessen von
einem Ehrengericht des Offiziersstandes enthoben; er galt fortan nur noch als
gewöhnlicher Soldat. Gerade bei den Angehörigen der österreichisch-ungarischen
Armee bestimmten zu jener Zeit Ehre, Stolz, Kameradschaft, Duelle, adlige Herkunft
und verkrustete Militär-Hierarchien den Alltag. Dem hält Schnitzler nicht nur den
Spiegel vor, er setzt auch die dadurch unterdrückte Individualität des Einzelnen
dagegen. Da öffentliche Kritik an diesen Zuständen nicht möglich war, wählte der
Autor für seine knapp 50 Seiten lange Novelle erstmals die neue Erzählform des
inneren Monologs. Hierdurch eröffnet sich dem Leser ein direkter Zugriff auf die
Gefühlswelt des Offiziers und er kann dessen Zerrissenheit und Angst nachvollziehen.
Die Gedanken des Protagonisten verraten persönliche Einstellungen zu Vorgesetzten,
zu Juden oder zu Frauen, die er niemals laut äußern dürfte. Gustl ist auch sehr
auf seinen eigenen Vorteil bedacht, und vermutlich wäre er zu feige, sich tatsächlich
umzubringen. Jedenfalls zögert er den angeblich notwendigen Schritt hinaus. Seine
Kleingeistigkeit in Verbindung mit dem nicht durch Verdienste erworbenen
gesellschaftlichen Status entlarven Leutnant Gustl als Heuchler, bei dem sich Sein
und Schein stark unterscheiden. Nach der gekonnt zusammengefassten
Inhaltsangabe las Annette Wibowo prononciert und einfühlsam eine Originalseite der Novelle.
Nun zeigte Miriam Brause ihre 2.künstlerische Seite, sie singt und begleitet sich am
Klavier mit Bravour bei Georg Danzers Song „Die Freiheit“. Danzer ist ein Wiener
Liedermacher, der vor allem in den 1970er bis 90er Jahren erfolgreich war und dessen
Texte humoristisch, ironisch, aber auch tiefgehend und gesellschaftskritisch sind.
Die Freiheit
vor ein paar tagen ging ich in den zoo,
die sonne schien, mir war ums herz so froh.
vor einem käfig sah ich leute stehn,
da ging ich hin um mir das näher anzusehn.
„nicht füttern“ stand auf einem großen schild
und „bitte auch nicht reizen, da sehr wild!“
erwachsene und kinder schauten dumm
und nur ein wärter schaute grimmig und sehr stumm.
ich fragte ihn. „wie heißt denn dieses tier?“
„das ist die freiheit“ sagte er zu mir.
„die gibt es jetzt so selten auf der welt,
drum wird sie hier für wenig geld zur schau gestellt“
die freiheit ist ein wundersames tier
und manche menschen haben angst vor ihr.
doch hinter gitterstäben geht sie ein,
denn nur in freiheit kann die freiheit freiheit sein.
denn nur in freiheit kann die freiheit freiheit sein.
Ich schaute und ich sagte „Lieber Herr!
Ich seh ja nichts, der Käfig ist doch leer“
„Das ist ja grade“ sagte er „der Gag,
man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg!“
Mit Richard Eldridge Maltbys Song „Heather on the hill“ , eröffnet Miriam Brause
schwungvoll den zweiten Teil des Programms.
Karl Kraus dem Meister der Sprache und
neben Georg Lichtenberg wohl der bedeutendste deutschsprachige Satiriker widmete
sich Dieter Körber.
Er stellte den Kraus Titel „Sittlichkeit und Kriminalität“ vor.
Eine 1908 erschienene Sammlung von 41 Artikel der Zeitschrift die Fackel,
die Kraus von 1911 bis 1936 ganz allein schreibt. Auch Karl Kraus hatte sich
als Student dem Dichterkreis „Jung-Wien“ im Café Griensteidl angeschlossen. Deren
Abkehr von Realismus und Naturalismus führte jedoch dazu, dass Kraus sich bald
wieder von der "kaffeehausdekadenzmodernen" Literaturszene abgrenzte. Nur die
Freundschaft zu Peter Altenberg hatte Bestand. Kein Autor des 19. und 20. Jahrhunderts
hat mit derart unablässiger Leidenschaft den Wörtern und Wendungen seiner Zeitgenossen,
dem Umgang mit der deutschen Sprache, der Korruption und „Preßdiktatur“ nachgespürt wie
dieser einsame Meister der Ironie.
Dieter Körber hat sich aus der Sammlung den Artikel
„Der Fall Riehl“ vorgenommen.
‚Die Bordellbetreiberin Regine Riehl hält ihre „Mädchen“ als Gefangene, sie werden
geschlagen und eingesperrt. Bei Regine Riehl arbeiten Mädchen ab 14 Jahren. Minderjährige
„Kindfrauen“ sind ein besonders gutes Geschäft für die Bordellbetreiber. Polizisten
lassen sich mit Gratissex und Champagner bestechen. Die Behörden tun daher lange nichts
gegen die verheerenden Zustände.
Hier polemisiert Kraus gegen die Engstirnigkeit der Justiz und die Käuflichkeit von
Amtspersonen. Gekonnt und professionell meistert Dieter Körber den schwierigen Text.
Die Grundthese von Karl Kraus, die sich durch die Sammlung der Artikel zieht, ist
folgende: „Kriminalgerichte haben keine moralischen Urteile zu fällen.“ Selbst heute
115 Jahre später tut sich die Rechtpflege schwer damit.
Die nächste Autorin gehört nicht eigentlich zu den Kaffeehausliteraten, aber sie lebte
um 1900 in Wien. Marie von Ebner-Eschenbach hat lebhaften Anteil genommen an den
politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Als Liberale mit
wachem Blick für spießbürgerliche Borniertheit hat sie sich besonders gegen den
Antisemitismus gewandt, der seit den 1880er-Jahren immer unverhohlener das
öffentliche Leben in Deutschland und Österreich bestimmt hat. Durch Ihren großen
Mentor Grillparzer erhält sie zu ihrem 70. Geburtstag 1900 die Ehrendoktorwürde der Universität Wien
Ebner-Eschenbach wurde schon zu Lebzeiten vielfach übersetzt, und sie war für den
Nobelpreis 1911 nominiert, den dann nicht sie, sondern Selma Lagerlöf bekommen hat.
Sie ist keine Autorin, bei der Erotik eine große Rolle spielen würde, aber sie ist
eine Autorin, die in vielen Aspekten sehr zeitgemäß und zeitlos ist: in ihrer
Gesellschaftskritik, in ihrem Engagement für Frauenrechte, in ihrem Humor und
ihrer Ironie. Von ihr stammen viele kluge Aphorismen wie zB:
"Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt." und
"Es gibt mehr naive Männer als naive Frauen."
Sie gilt zusammen mit Annette von Droste-Hülshoff als bedeutendste deutschsprachige
Schriftstellerin des 19. Jh. Heute wird sie nicht mehr viel gelesen, ihr Werk gilt
als etwas verstaubt und sentimental. Dabei hat sie – insbesondere in ihren Erzählungen
– soziale und zwischenmenschliche Probleme recht schonungslos dargestellt.
Diese Erzählungen sind oft im dörflichen Raum angesiedelt, vielleicht war es
ihr zu heikel, sie in ihrer Gesellschaftsschicht zu zeigen.
Wegen einer Erkrankung von Helmut Regenfuß las Karin Schrey brillant den von
ihm vorbereiteten Vortrag „Die Totenwacht“: die Tochter hält Totenwachen am Bett
ihrer Mutter und sinnt über deren und ihr eigenes armseliges Leben nach. Da kommt
ihr einstiger Vergewaltiger, kondoliert und lässt durchblicken, dass er sie jetzt
heiraten möchte, doch sie schickt ihn weg.
Karin Schrey fügte noch an:
Der Text mag uns heute „verstaubt und sentimental“ erscheinen – mir auch zu
volkstümelnd, um mich wirklich auf ihn neugierig zu machen - aber für das ausgehende
19. Jh. war die Aussage des Textes geradezu revolutionär: Anna weigert sich, den Antrag
ihres Vergewaltigers anzunehmen, der sie von der Schande, die damals über Mütter von
unehelichen Kindern kam, befreit hätte und ihr ein Leben als angesehene, ehrbare und
darüber hinaus auch noch
wohlhabende Ehefrau ermöglicht hätte. Lieber verdingt sie sich selbstständig
bei einer, ihren Hof ebenfalls resolut und eigenständig führenden Bäuerin. Sie
zieht ein zwar hartes, aber selbstbestimmtes Leben dem einer unselbstständigen Ehefrau vor.
Kein Wunder, dass die frühe Frauenbewegung damals auf die Schriftstellerin
aufmerksam wurde. Dazu passt dann auch das wohl berühmteste Zitat von ihr: „Eine
kluge Frau hat Millionen geborener Feinde. Alle dummen Männer!“
Georg Kreisler ist ein Wiener Klavierkabarettist. Sein Werk zeichnet sich durch einen
tiefschwarzen Humor und eine sehr pointierte Wortakrobatik aus.
Miriam Brause am Klavier trug seinen Song „Geh ma Tauben vergiften im Park“ vor
und erntete dafür begeisterten Applaus.
Für den letzten Beitrag blieb die Moderatorin Almut Rose gleich am Mikrofon
Robert Musil, geboren 1880 in Klagenfurt, gestorben 1942 in Genf, war Romancier,
Dramatiker und Essayist 1891 versäumte er ein halbes Jahr den Unterricht wegen einer
„Nerven- und Gehirnkrankeit“. Um ihn zu ertüchtigen, schickten ihn die Eltern nach
Mährisch Weißkirchen in die dortige Kadettenanstalt. Hier kam es zu jenen Erlebnissen
und Erfahrungen, die Musil später in seinem ersten Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“
verarbeitete, der 1906 erschien. Ein vielfach auch als Schullektüre genutztes Werkbeispiel
der literarischen Moderne, das heute als Beginn des Expressionismus in der deutschen
Prosaliteratur betrachtet wird. Musil studierte Maschinenbau in Brünn, später Psychologie
und Philosophie in Berlin, wo er mit einer Arbeit über Ernst Mach 1908 promoviert wurde.
Er war im 1. Weltkrieg k.u.k. Offizier an der Südfront.
Seit 1923 fast ausschließlich an seinem großen Romanprojekt „Der Mann ohne Eigenschaften“
arbeitend, lebte er in Wien, emigrierte nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland
1938 in die Schweiz, wo er 1942 völlig verarmt starb.
Almut Rose wählte den 1924 erschienenen Novellenband „Drei Frauen“ Drei Erzählungen
vom Großmeister der literarischen Moderne, in denen drei Frauen im Mittelpunkt stehen:
die Bäuerin Grigia, die portugiesische Aristokratin und die Verkäuferin Tonka.
Grigia ist Personifizierung der Natur, die Portugiesin steht für das Mystische
und Tonka für das Naive. Alle drei verbindet das Moment der Ichkrise, aus der
männlichen Sicht geschildert. - Allerdings scheitern auch die Männer. Das
Rohmaterial zu „Drei Frauen“ ist stark autobiografisch gefärbt. Stoffliche
Anregungen zur ersten Novelle erhielt Musil vor allem während der Zeit seines
Einsatzes an der italienischen Front im Ersten Weltkrieg. Eine Bäuerin, die er
„ Grigia“ – die Graue nennt, weil sie ihre Kuh so ruft, wird die Geliebte Homos,
der seine Frau und seinen kranken Sohn verlassen hat und in einem venezianischen
Gebirgsort neue (Bergwerks-) Aufgaben findet. Neben einem Gefühl großer Harmonie
schleichen sich bald auch Todesahnungen in sein Gemüt. Zitat:
„Sein altes Leben war kraftlos geworden, es wurde wie ein Schmetterling, der gegen
den Herbst zu immer schwächer wird“. Und es geht weiter mit außergewöhnlichen,
manchmal fast lyrischen Vergleichen: Zitat: „Um halb vier des Morgens war es schon
ganz hell, aber die Sonne war noch nicht zu sehen und wenn man oben am Berg vorbeikam,
lagen die Rinder auf den Wiesen in der Nähe halb wach und halb schlafend. In mattweißen
steinernen großen Formen lagen sie auf den eingezogenen Beinen, den Körper hinten etwas
zur Seite hängend; sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern
hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten Licht entgegen, und ihre gleichförmig
langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten. Man durchschritt ihren Kreis wie den
einer dämmrigen erhabenen Existenz, und wenn man von oben zurückblickte, sahen sie
wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus, die von der Linie des Rückgrats,
der Hinterbeine und des Schweifs gebildet wurden.“ Homo ist wie verzaubert, wird der
Geliebte einer Bauernfrau und wie im Märchen bleiben ihre Treffen im Heustadl lange
ungestört bis Grigia unruhig wird und die Beziehung beenden will.
Er überredet sie, mit ihm in einen alten hoch am Berg gelegenen Stollen zu kommen.
Dort überrascht sie Grigias Mann, von dem nie die Rede war und wälzt von außen
einen unverrückbaren Stein vor den Stolleneingang. Während Homo ohne Lebenswillen
eindämmert, gelingt es Grigia, aus dem Stollen zu entkommen.
„Die Portugiesin“ spielt im Mittelalter Zitat „…Der Herr von Ketten, welcher die
schöne Portugiesin vor zwölf Jahren geheiratet hatte, stand damals in seinem dreißigsten Jahr.
Die Hochzeit fand in der Fremde statt, …….die Zeit war wie ein einjähriger Hochzeitsflug
vergangen. Denn alle Ketten waren glänzende Kavaliere, bloß zeigten sie es nur in
dem einen Jahr ihres Lebens, wo sie freiten; ihre Frauen waren schön, weil sie
schöne Söhne wollten, und es wäre ihnen anders nicht möglich gewesen, in der Fremde,
wo sie nicht so viel galten wie daheim, solche Frauen zu gewinnen; sie wussten aber
selbst nicht, zeigten sie sich in diesem einen Jahr so, wie sie wirklich waren, oder
in all den andren……“
Er bringt die Portugiesin, der Musil keinen Namen gibt - auf seine Burg bei Trient,
sie bleibt ihm aber innerlich fremd und geheimnisvoll. Als von Ketten krank wird,
taucht der Jugendfreund der Portugiesin auf. Von Ketten rafft sich aus seiner
Krankheit auf. Als er die Portugiesin mit ihrem vermeintlichen Liebhaber ertappen
will, erfährt er, dass der Fremde schon fort ist.
Die 3. Novelle „Tonka“
An den Folgen eines syphilitischen Abortus war seine von ihm angesteckte
langjährige Geliebte Herma Dietz 1907 gestorben. Musil hatte diese Erfahrung
»bewältigt«, indem er sie in der Novelle »Tonka« verarbeitete, deren unglückliche
Hauptfigur in einem frühen Entwurf Herma hieß.
Tonka, einfach, schweigsam und anhänglich, beeindruckt einen jungen Wissenschaftler,
sodass sie trotz aller Ungleichheit schließlich seine Geliebte wird und sie auch einige
Jahre zusammenleben. Als sie ein Kind erwartet, zweifelt er, dass dies Kind von ihm sei.
Das Rätsel bleibt ungelöst, da sie nach der Geburt stirbt.
Zum Schluss zeigte Miriam Brause noch einmal, was ein Saxophon so alles kann – besonders
lachen mit Rudy Wiedoefts, Sax-o-Phun und erntete wieder begeisterten Applaus.
Rudy Wiedoeft war kein Österreicher, sondern Saxophonist aus Amerika, der im frühen
20. Jahrhundert lebte. Er schrieb vor allem leichte Jazz-Stücke im Dixieland-Stil,
die immer ein bisschen nach Grammophon klingen.
Dann bat der erste Vorsitzende Dieter Körber wie immer die Akteure auf die Bühne.
Mit Dank an die Mitwirkenden, die Musikkünstlerin Miriam Brause und die Besucher
beschließt Dieter Körber den Abend, der mit reichlichem Applaus eines sichtlich
zufriedenen Publikums belohnt wurde.
Abweichend vom Jahresprogramm steht der nächste Literaturabend
am 27. April 2023 unter dem Titel „Briefe aus dunkler Zeit. 1933-1945“.
Hier sollen Briefe und Tagebücher aus der Kriegs- und Nachkriegszeit vorgestellt werden.
Der ursprünglich vorgesehene Goethe-Abend wird aus technischen Gründen
am 28. September 2023, durchgeführt.
Almut Rose