Literaturforum Karben e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 30. Juni 2022:
"Die dunkle Seite des Schaffens, Dichter und ihre Dämonen"
Ort: KUHtelier im Schlosshof von Leonhardi, Groß-Karben
Zeit: 19:30 - 22: 00 Uhr
Anwesende: ca. 45 Besucher
Nach der Begrüßung der Besucher durch den ersten Vorsitzenden Dieter Körber,
übernahm Dr. Michael Rettinger,
der den Abend organisiert und gestaltet hatte, die Moderation.
Dr. Rettinger führte auch in das Thema ein. Er schlug einen Bogen von Frankenstein
über die dunkle Seite der Romantik mit E.T.A. Hoffmann zu Siegmund Freud.
Mit den Klängen von Bourbon Street Parade, von Eugenie Rocherolle konnten
Nicola Piesch Saxophon und Dieter Wierz Klavier stimmungsvoll überleiten zu Dostojewski.
Da Karin Schrey verhindert war übernahm Claudia Weishäupl den von ihr vorbereiteten
Vortrag über Dostojewski und seinen Weltroman „Schuld und Sühne“. 1849 steht
Dostojewski bereits auf dem Richtplatz und wartet auf seine Hinrichtung, doch
im letzten Moment wird das Todesurteil in eine Verbannung nach Sibirien
umgewandelt. Er sagt: „Wenn ich weiterleben könnte, ich würde jede Minute meines
Lebens in ein ganzes Jahrhundert verwandeln“ und er tut das dann auch in allen
seinen Romanen auf unterschiedliche Weise.
Armenkrankenhauses, ein jähzorniger Säufer, der 1839 von seinen Leibeigenen
umgebracht wurde, indem sie ihn in Wodka ersäuften. In „Schuld und Sühne“
werden alle Süchte behandelt: Sucht nach Anerkennung (Geltungssucht ), Alkoholismus,
fehlgeleitete Sexualität, Liebe, Habgier. Der Protagonist ermordet eine Pfandleiherin,
weil er erfahren will „ob ich eine Laus bin, wie alle, oder ein Mensch“.
Dostojewski dringt hier in die finstersten Verliese und Labyrinthe der menschlichen
Seele ein, und wir müssen entsetzt feststellen: Das Böse gibt es tatsächlich!
Und auch hier, wie immer, ist es für Beschreibungen zu groß.
„Von den großen Grenzüberschreitern der Literatur“, schreibt Stefan Zweig,
„ist Dostojewski in unseren Tagen der größte gewesen“.
Hans Kärcher fragte sich und uns, was denn nun wohl der Dämon von Nietzsche
gewesen sei? Obwohl er von der Nachwelt meist als Philosoph wahrgenommen worden
sei,habe er in seiner hektischen Art nie zusammenhängende Theorien aufgestellt.
Sein gesamtes Schreiben sei aphoristischer Art, was es leicht mache, einzelne
seiner Sentenzen auszuwählen und zu versuchen, sie zu verstehen und zu interpretieren.
Er las wohlausgewählte Auszüge aus „Zarathustra“ vor und kam zu dem Schluss,
dass Nietzsches Dämon offensichtlich sein radikales Denken und das Zweifeln an
allen überkommenen Moralvorstellungen seiner Zeit war.
Der „Caravan“ von Duke Ellington leitete über zum größten Dämon, der nicht nur
Künstler verfolgt und uns schon aus dem Titel von Hans Falladas Roman entgegensprang,
den Helmut Regenfuß als Nächstes präsentierte: „Der ,Trinker“. Ein schlimmes Leben,
das der psychisch labile Sohn eines hohen preußischen Richters führte: mißglückter
Doppelselbstmord, Alkohol und Morphium, Heilanstalten und Gefängnis bis er 1929
heiratet und unter dem Pseudonym eine erfolgreiche Schriftstellerkarriere beginnt:
Hans im Glück und das Pferd Fallada, das immer die Wahrheit spricht, auch wenn
sein abgeschlagener Kopf schon über das Hoftor genagelt ist. Durch seine Vergangenheit
hatte er Erfahrungen, die er in seinen Romanen verarbeitete und die Erfolg brachten;
die Leser spürten: „Da ist einer, der weiß, wovon er schreibt“. Er wird einer
der erfolgreichsten Autoren des Dritten Reichs. Dabei macht er nur kleine
Zugeständnisse an die geforderte Nazi-Kultur. Die Missstände seiner großen
sozialkritischen Romane schreibt man der Weimarer Republik zu und der Rest seines
umfangreichen Werkes hat eher unverfängliche Themen. Aber der wirtschaftliche Erfolg
ist fatal für ihn. Er beginnt wieder hemmungslos zu trinken, sein Morphium Konsum
eskaliert. In einer „Heil und Pflegeanstalt“ verfasst er das Manuskript zu seinem
Roman „Der Trinker“. Er hat das Manuskript in einer Art Geheimschrift verworren
verfasst und nie einer Veröffentlichung zugestimmt, es war eben auch eine Lebensbeichte.
Der Roman erschien erst 1950, drei Jahre nach seinem Tod. Er gilt als sein
persönlichstes Werk; eine Dichtung mit autobiographischem Hintergrund. 1947
stirbt er - mit 54 Jahren - laut Totenschein an Herzversagen.
Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und einen so schönen Tod!
So endet Joseph Roths Erzählung „Die Legende vom heiligen Trinker“ von 1939,
die nun Dr. Michael Rettinger als Nächsten Beitrag vorstellte. Joseph Roth, ein aus
Brody in Galizien stammender Jude, aufgewachsen unter der Flagge des zweiköpfigen
Adlers der Habsburger, macht sich schon früh einen Namen als Journalist, bald auch
als Autor. Aber er kann nicht mit Geld umgehen und geht daher als Journalist auf
Reisen in viele Länder. Seine Berichterstattungen werden in den Zeitungen viel beachtet.
Im Gegensatz zu vielen Kollegen und Schriftstellerfreunden ist Roth äußerst
hellsichtig und illusionslos, was die politischen Entwicklungen in Deutschland
betrifft. Gegenüber seinem Freund und späteren Biographen Géza von Cziffra sagte er:
„Machen Sie sich keine Illusionen, hier wird die Hölle regieren.“
Roth war vor allem eines, nämlich heimatlos und immer getrieben. Er lebte die
meiste Zeit seines erwachsenen Lebens nicht in Wohnungen, sondern in Hotels.
Und mit dem Untergang des Kaiserreichs verlor er einen für ihn immens wichtigen,
übergeordneten ideologischen Bezugsrahmen, zu dem er sich nur noch sehnsuchtsvoll,
mit dem Gefühl des Verlustes, verhalten konnte.
Die Erzählung ist wie ein Märchen: Ein eleganter Herr bittet einen Obdachlosen
um einen Gefallen, nämlich 200 Francs von ihm anzunehmen. Das ist verkehrte Welt,
denn ist es nicht der Obdachlose, der in der Rolle des Bittenden sein müsste? Ganz
ähnlich, wie auch Roth im Pariser Exil immer wieder Bittbriefe an seine Freunde
schreiben musste, um über die Runden zu kommen. Verwahrlost und sichtlich schwankend
besteht jedoch der Obdachlose darauf, das Geld einst zurückzuzahlen. Der Obdachlose
verspricht, zu einem unbestimmten Zeitpunkt, die Schuld nicht dem Herrn zu erstatten,
aber in einer Kirche der heiligen Therese zu spenden. Und der Rest dieser Geschichte
ist so märchenhaft wie ihr Beginn, denn sie erzählt davon, wie der Obdachlose das
Geld verliert – und zwar durch gutes Essen, Gutgläubigkeit und natürlich viel Alkohol
– aber auch wundersam zu neuem Geld gelangt, es wieder verliert – abermals durch
gutes Essen, die Kosten für ein luxuriöses Hotelzimmer und wieder viel Alkoholgenuss –
um nur abermals zu neuem Geld zu gelangen, das er zur Kirche bringen kann.
Roth schöpft fantasievoll aus dem Stoff seines eigenen Lebens, viele reale
Lebenskonstellationen finden sich hier wieder. Die Frage seines Freundes warum
sein Trinker heilig sei beantwortet Roth so:
„Weil der liebe Gott ihm dieselbe Gnade zuteil werden ließ wie mir. Er lieh meinem
Trinker, einem Clochard, einmal zweihundert Franc […]. Der Clochard vertrank natürlich
die Gabe, aber der liebe Gott ließ ihm auf Umwegen immer wieder Geld zukommen –
genauso wie er meine dichterische Begabung immer wieder aufflammen ließ, wenn die
innere Flamme auszulöschen drohte.“
Charly Chaplins song „Smile“ holte uns aus der Pause, wo ein erholsamer Wind die
Schwüle des Tages vertrieben hatte.
Den bekanntesten aller Dämonen „Mephisto“ präsentierte uns anschließend Almut Rose.
Klaus ist die tragische Figur unter den Mann-Kindern: Das schwierige Verhältnis zum Vater,
die komplizierte Liebe zur Schwester Erika, das Outing seiner Homosexualität, die
große Einsamkeit in der Emigration - für Klaus Mann war das alles auf Dauer nicht
zu ertragen; den früh geäußerten Todeswunsch hat er sich im Alter von 42 Jahren
mit einer Überdosis Schlaftabletten selbst erfüllt.
Marcel Reich-Ranicki nannte Klaus Mann einen "dreifach Geschlagenen": "Er war homosexuell.
Er war süchtig. Er war der Sohn Thomas Manns." Diese Bürde hat Klaus Mann selbst
problematisiert, aber zugleich auch durchaus produktiv genutzt. Sein Buch
"Der fromme Tanz" ist 1925 einer der ersten Homosexuellen-Romane in der deutschen Literatur.
Bis zur Machtübernahme der Nazis ist Klaus viel auf Reisen und emigriert dann wie
die ganze Familie Mann nach Frankreich, 1934 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.
Nach 2 vergeblichen Heroin-Entziehungskuren wird er 1940 auch noch beim FBI
denunziert und seitdem bespitzelt. 1943 erhält er endlich die ersehnte amerikanische
Staatsbürgerschaft und wird in die amerikanische Armee einberufen. Er schreibt
Flugblätter und verfasst Texte für Radiosender und kommt als Korrespondent der
Armeezeitung "The Stars and Stripes" 1945 nach Deutschland zurück, verlässt die
Armee, fasst aber nicht mehr Fuß und nimmt sich am 21.Mai 1949 in Cannes das Leben.
In seinem Roman „Mephisto“, der 1936 in Amsterdam erscheint zeigt er anhand einer
Künstlerkarriere die Verstrickung der Intellektuellen und der Künstler mit dem NS-Regime.
Natürlich weisen einige der Romanfiguren deutliche Übereinstimmungen mit bekannten
Persönlichkeiten auf und bei Höfgen, dem „Mephisto“-Darsteller und Intendanten des
Staatlichen Schauspielhauses in Berlin denkt man sofort an Gustaf Gründgens, der
dieses Amt von 1934 bis 1945 ausübte und der auch von 1926 bis 1929 mit Klaus Manns
Schwester Erika verheiratet war.
1956 wird "Mephisto" in der DDR veröffentlicht. Im Westen gelingt das erst Rowohlt
1981. Ein Buch, das auf 430 Seiten seinen Lesern einen tiefen Blick hinter die
Kulissen des Theaterlebens während der Nazizeit gewährt.
Klaus Mann lässt nichts aus von Rauschgift bis Sado-Maso, aber nie peinlich,
immer spannend wie ein Krimi. Und ja, man merkt, dass er aus eigener Erfahrung erzählt.
Last but not least stellt Annette Wibowo den sicher vielen unbekannten japanischen
Autor Yukio Mishima und seinen Roman „Bekenntnisse einer Maske“ vor
Mishima war hoch attraktiv und arbeitete daher auch als Model. Er schrieb Romane,
Drehbücher, Schauspiele, Gedichte sowie ein Libretto. Mishima war getrieben von
einer Obsession. Diese dunkle Seite betraf die für ihn bestehende Einheit zwischen
Schönheit, Erotik und Tod. Dass er wegen Schwächlichkeit nicht zur Armee eingezogen
wurde führte zu tiefen Minderwertigkeitsgefühlen und zur Besessenheit körperliche
Fitness zu erhalten.
Am 25.11.1970 unternimmt er mit vier Mitgliedern der Tatenokai einen politischen
Putschversuch auf das militärische Hauptquartier, mit dem Ziel die Verfassung
Japans abzuschaffen und die Macht des japanischen Kaisers zu restaurieren.
Nachdem dieser fehlgeschlagen war, begeht Mishima rituellen Selbstmord.
Das Buch trägt autobiographische Züge. Der Protagonist ist ein schwächlicher Junge,
der seine Homosexualität zu verheimlichen versucht, indem er sich hinter der Maske
einer sozial-konventionellen Person im äußeren Umfeld versteckt. Als der Junge das
Mädchen Sonoko kennenlernt, scheint eine neue Identität möglich, jedoch zerbricht
die Beziehung und Kechan führt sein Leben als Maske weiter.
Zum Schluss wie immer Musik „Undecided“ von Chris Brown und die Verabschiedung der
Akteure durch den ersten Vorsitzenden Dieter Körber.
Almut Rose