Karbener LiteraturTreff e.V.
Bericht vom Literaturabend, am 31. Januar 2019:
Vater-Sohn-Konflikte in der Literatur
Ort: KUHtelier, Groß Karben, im Schlosshof von Leonhardi
Zeit: 19:35 - 22: 10 Uhr
Anwesende: ca. 50 Personen und Pressevertreter
Der Vorsitzende Dieter Körber begrüßt die Gäste und bittet zu Beginn um einen
Moment stillen Gedenkens an die treue Begleiterin und Freundin des Karbener
LiteraturTreff e.V. Beate Hoffarth, die am heutigen Nachmittag zur letzten Ruhe
begleitet wurde.
Martina Riedel leitet mit einem kurzen Klavierstück "Fathers and sons" zum Thema
des Abends über.
Zum Auftakt repetiert Dieter Körber den griechischen Mythos von Ödipus, der in
Notwehr einen Angreifer erschlägt - ohne zu wissen, dass dieser sein leiblicher
Vater ist. Anschließend löst er das Rätsel der Sphinx (der Mensch), darf zum Lohn
Iokaste heiraten - ohne zu wissen, dass diese seine leibliche Mutter ist, und
erfüllt so den Orakelspruch.
Als die Pest Theben heimsucht, offenbart ein weiterer Orakelspruch die Wahrheit:
Iokaste erhängt sich und Ödipus blendet sich. Diese Geschichte hat Sigmund Freud,
den Vater der Psychoanalyse, fasziniert und zu seiner Theorie des Ödipuskomplexes
inspiriert. In welchem das frühkindliche sexualerotische Beziehungsgeflecht
zwischen Kinder und dem gegengeschlechtlichen Elternteil beschrieben wird.
Zur Einführung in ihr Thema "Erste Liebe" zitiert Rosie Cordsen-Enslin aus dem
Essay von Rüdiger Zill: "….Dennoch ist das verstärkte Auftreten des Titels zu
einem bestimmten historischen Zeitpunkt kein Zufall. Es scheint mir die
Folgeerscheinung eines emotionshistorischen Umbruchs zu sein: der Aufwertung
der Gefühle seit dem 18. Jahrhundert, ein neues, enthusiastisches Liebesverständnis,
das mit einem neuen Freundschaftskult und der Vorstellung inniger Zweisamkeit,
wie es das Zeitalter der Empfindsamkeit und die Romantik propagiert haben, einhergeht.
Der Kult der Empfindsamkeit war einer, der durch eine zunehmende Literarisierung
ermöglicht wurde. Das Buch, und im 19. Jahrhundert dann die Illustrierten
Zeitschriften im Stile der "Gartenlaube", waren die Medien der neuen
Gefühlskultur. Man las den "Werther" und fühlte dann wie er, manchmal
sogar mit allen Konsequenzen. Der "Ersten Liebe" kommt eine ganz besondere
Bedeutung zu, weil man an ihr beobachten kann wie diese Geschichten, aus denen
das Gefühl sich zusammensetzt, entstehen."
Die Kinderbuchautorin Annette Wibowo übernimmt dann die Vorstellung von Iwan
Turgenjews Novelle "Erste Liebe" aus dem Jahr 1860. Wladimir Petrowitsch, der
sechzehnjährige Protagonist der Novelle, erinnert sich als inzwischen gealterter
Mann wehmütig an die Geschichte seiner ersten Liebe und erzählt wie er damals mit
seinen Eltern die Ferien auf dem Lande verbrachte und sich in die schöne, fünf
Jahre ältere Zinaida Alexandrowna verliebte, die mit ihren zahlreichen Bewerbern
kokettiert und sadistische Liebesbeweise von ihnen verlangt. Als er nach einem
tollkühnen Sprung von einer Mauer ohnmächtig wird küsst sie ihn leidenschaftlich,
aber in Wahrheit meint sie dessen unnahbarem Vater, Pjotr Wasiljewitsch. Er ist
zehn Jahre jünger als seine Frau, und die beiden führen eine bloße Vernunftehe,
sodass das "Gift von Zinaidas animalischer Liebe" leichtes Spiel bei ihm hat.
Erst Jahre später erfährt Wladimir, daß Zinaida den reichen Monsieur Dolsky
geheiratet hat und bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist.
Der Text ist keineswegs platt realistisch, dafür sind Turgenjews Gefühlsbeschreibungen
zu impressionistisch, seine Naturschilderungen zu lyrisch und die Erwähnung alltäglicher
Tatsachen zu symbolisch.
Ihre volle Bedeutung gewinnt die Novelle erst durch die treffende Widerspiegelung
der gesellschaftlichen Verhältnisse des zeitgenössischen Russland, die den äußeren
Rahmen des Geschehens abgeben.
Nach Martina Riedels Klavieradaption von Irma la Douce: Our Language of Love
Übernimmt Annette Wibowo die Moderation und findet jeweils sehr launige und
treffende Worte für die folgenden Beiträge.
Man merkt dem Vortrag von Rosie Cordsen-Enslin an, dass sie der Rezension von
Barbara von Becker voll zustimmt, die sagt, dass "Salzwasser" von Charles Simmons
aus dem Jahr 1999 ein kleines Meisterwerk sei.
Allein schon für den ersten Satz verdiente er einen Preis:
"Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank".
Der Roman ist sozusagen ein "Remake", also eine neue Version des gleichen
Themas. Er hat die Grundstruktur und einzelne Motive der Geschichte von Russland
in einen amerikanischen Sommer des Jahres 1963, irgendwo an der nordatlantischen
Küste, transponiert. Dort liegt auf einer vorgelagerten Halbinsel das Haus, in
dem der sechzehnjährige Michael mit seinen Eltern regelmäßig die Ferien verbringt.
Das Gästehaus hatte die Familie diesmal an eine Mrs. Merzt und ihre zwanzigjährige
Tochter Ina vermietet. In der Trägheit des sommerlichen Einerlei aus Baden,
Fischen oder mit Hund Blackheart tollen ist es kein Wunder, daß das Auftauchen
einer attraktiven jungen Frau seine Wirkung auf Michael nicht verfehlt.
Simmons Version einer klassischen Dreiecksgeschichte jongliert frei und souverän
mit Zitaten von Handlungsgerüst und Charakteren: er erfindet sie neu, zeugt
eigenständige literarische Geschöpfe, keine Abbilder vorgefundener Figuren.
Zina ist ein modernes Mädchen, begabte und zielbewusste Fotografin, die zwischen
schwärmerisch, kühlkalkulierend, verletzlich und verunsichert ihre irisierende Spur zieht.
Ihre Mutter, die russische Fürstin, könnte auch einem Stück von Tennessee Williams
entsprungen sein. Eine lasziv-mondäne Frau ohne Illusionen, mit beträchtlichem
Verbrauch an jüngeren Verehrern und frivolen Sprüchen. Besonders die Figur des
Michael hat mehr Konturen als die des Wladimir bei Turgenjews. Das liegt unter
anderem an der eindringlich erzählten, verschworenen Vater-Sohn-Kammeradschaft
beim Sportfischen oder bei Schwimmabenteuern. Mit großer Sensibilität gelingt es
Simmons die untergründige Veränderung dieser Beziehung einzufangen, wenn der Vater
vom Idol zum Rivalen wird. Das von beiden geliebte Segelboot namens "Angela"
spielt in diesem Szenario keine unwesentliche Rolle, wird wie eine personifizierte
Freundin beschrieben, doch am Ende sollte sie Schicksal spielen beim verbalen
Countdown und Kräftemessen zwischen Vater und Sohn auf nächtlicher Segelpartie.
Beethovens Bagatelle "Lustig-traurig", von Frau Riedel eindrucksvoll auf dem
Klavier gespielt leitet über zu einem highlight des Abends:
Barbara Metz als Don Carlos und Dieter Körber als Beichtiger lesen aus Schillers
Drama "Don Carlos". Barbara Metz und Dieter Körber haben aus Schillers
vielschichtigem Drama "Don Carlos" zwei beispielgebende Scenen für das Thema
des Abends gewählt.
Das Gespräch Domingo (Beichtvater des Königs) mit Don Carlos dem Infanten von
Spanien. Domingo will in dem Gespräch die düstere Stimmung des Königssohns
ergründen und spricht eine nur wenig verhüllte Morddrohung aus.
"zu teuer kann der Monarch die Ruhe seines Sohnes nicht erkaufen".
In der zweiten der gewählten Scenen erleben wir den Versöhnungsversuch von Don
Carlos mit seinem Vater, der jedoch kläglich scheitert. Der Tatmensch König Philipp
findet keinen Zugang zu dem hypersensiblen und zarten Sohn, den er als Schwächling
erlebt. Ein Problem, das im Brief Kafkas an den Vater noch einmal aufleuchtet.
Barbara Metz und Dieter Körber lassen die Figuren durch ihren emphatischen
Vortrag lebendig werden.
Nach der eifrig für Gespräche genutzten Pause holt uns Frau Martina Riedel mit
"Cinematic 1" wieder auf unsere Plätze.
Barbara Metz und das neu eingetretene Aktivmitglied Michael Rettinger stellen
gekonnt Kafkas "Brief an den Vater" vor, 1919 ist er in Schelesen bei Prag
entstanden und wurde nie abgeschickt. Vielleicht nur, weil die in diesem Brief
konstruierten Einwände seines Vaters gegen die Argumente des Sohnes ihn davon
abhalten. Das versöhnliche Ziel des Briefes, "dass es uns beide ein wenig beruhigen
und Leben und Sterben leichter machen kann" wird nicht erreicht. Es bleibt das
donnernde Urteil seines Vaters: "Lebensuntüchtig bist Du".
Der Grund des Schreibens ist die Furcht des Sohnes - vor dem eigenen Vater.
Die Furcht ist Grund und Thema des Briefes, sie ist biografisch die entscheidende
Erfahrung für den heranwachsenden Kafka und sie waltet auch in seinen Dichtungen.
Kafka sucht in seinem Brief nach dem Grund seiner Angst. Man kann sagen: Kafka
liefert mit dem Brief eine regelrechte Anklageschrift, die Kafka Schritt für Schritt entwickelt.
Dieses Vater-Sohn-Verhältnis. Es ist vor allem eines, ein Gegensatz: die
allmächtige Autorität des Vaters auf der einen, die Ohnmacht des Sohnes auf der anderen Seite.
Die Macht des Vaters gründet auf der allen sichtbaren Leistung Hermann Kafkas.
Er gehörte der ersten Generation des emanzipierten Landjudentums an, das damals
in die Städte zog, um gesellschaftlicher Unterprivilegierung zu entkommen.
In Prag gehörte er nach Jahren harter Arbeit zur oberen Prager Mittelschicht
und war Unternehmer mit ansehnlichem sozialen Status. Der Sohn ist gescheitert
als Schriftsteller (seine wenigen Veröffentlichungen sind fast nur dem sog.
"Prager Kreis" um Max Brod bekannt) und er scheiterte mit drei Heiratsversuchen,
die ihm eine gesellschaftliche Stellung nach außen und eine ebenbürtige Stellung
nach innen verschafft hätten.
Ein weiteres Klavierstück macht uns aufnahmefähig für die nächste dramatische
Vater-Sohn Beziehung.
Karin Schrey hat sich mit John Steinbeck "Jenseits von Eden" beschäftigt.
Der Nobelpreisträger von 1962 sagt selbst über sein Buch, dass alles was er
vorher geschrieben habe nur Vorübung zu diesem gewesen sei. Der Roman beschreibt
das Schicksal der Familien Trusk und Hamilton vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis
zum Ersten Weltkrieg. Immer geht es um 2 Brüder und ihr Verhältnis zum Vater.
Das Kain und Abel Thema zieht sich durch das gesamte Werk. Zitat:
"Alle Romane, alle Gedichte sind begründet auf dem nie endenden Wettstreit in
uns zwischen Gut und Böse".
Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal. Der Mensch hat die Wahl, sich für
moralisch oder unmoralisch, Gut oder Böse, für richtig oder falsch zu entscheiden.
Hier in diesem Buch schlägt Charles seinen Bruder zusammen und holt eine Axt um
ihn zu ermorden, doch Adam entkommt.
In der nächsten Generation verrät Caleb seinem Bruder Aaron, dass ihre Mutter
ein Bordell betreibt. Daraufhin meldet sich Aaron als Kriegsfreiwilliger.
Vom Vater nach dem Verbleib des Bruders befragt, antwortet Caleb
"Muss ich denn auf ihn aufpassen?" Aaron fällt im Krieg und der Vater Adam
erleidet einen Schlaganfall, als er die Nachricht erhält. In seiner letzten
Minute erkennt Adam, dass auch er die Wahl hat: Nimmt er seinen reumütigen
verlorenen Sohn an oder stößt er ihn zurück? Er hebt die Hand zum Segen und
vergibt ihm seine Schuld.
In Vertretung für den leider erkrankten Fritz Böhner trägt Hans-Martin Thomas
dessen Referat über Siegfried Lenz "Deutschstunde" vor.
Die "Deutschstunde" erschien 1968 und war der erfolgreichste Roman von S.Lenz
(1926 - 2014).Siggi Jepsen soll 1954 als Insasse einer Jugendstrafanstalt in
einer Strafarbeit mit dem Titel "Die Freuden der Pflicht" seine Kindheitserinnerungen
niederschreiben. Er beschreibt sich aber als Opfer der Pflicht.
Sein Vater ist Dorfpolizist und soll das von den Nazis verhängte Malverbot gegen
seinen Freund Max Ludwig Nansen kontrollieren. Da Siggi häufig auf dem Hof des
Malers ist, verlangt er, er solle spionieren. Siggi ist ständig zwischen Gehorsam
gegenüber seinem Vater und seiner Bewunderung für den Maler hin und hergerissen.
Einmal versteckt er ein Bild an seinem Körper, ein anderes Mal verrät er seinem
Vater ein Versteck, wo dieser Bilder findet, die nur Fragmente wie Blumen Sterne
u. Ä. zeigten. Nansen hatte sie als "Unsichtbare" bezeichnet.
Nach Kriegsende wird der Vater seines Postens enthoben, kann aber nicht aufhören
den inzwischen weltweit anerkannten Maler zu verfolgen.
Siggi will ihn weiter schützen, aber seine vermeintliche Hilfeleistung verkehrt
sich ins Kriminelle: Er entfernt Nansens Gemälde aus einer Ausstellung und wird
wegen Diebstahls zu einer Jugendstrafe verurteilt.
Das folgende Klavierstück "The sun is setting" deutet schon das Ende des Abends an.
Doch Heidi Walter kann die Aufmerksamkeit des Auditoriums mit der sehr berührenden
Besprechung Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil" gewinnen. Sein Buch wurde
2011 veröffentlicht, nachdem er seinen alleinstehenden Vater 15 Jahre bei seiner
Alzheimer Erkrankung begleitet hatte.
Im Laufe der Erkrankung erfuhr die Beziehung des Autors zu seinem Vater, dem er
sich lange nicht sonderlich nahe fühlte, eine Wandlung - eine liebevolle
Hinwendung zu dem alten kranken Mann.
In jeder Phase seiner Erkrankung überraschte August seine Umgebung mit
ausgesprochener Freundlichkeit, Klugheit, Einfallsreichtum, sprachlichem Witz
und Präzision, obwohl er die Defizite in seinem Dasein genauso erkannte.
Zitat FAZ: "Überhaupt ist die Sprache des August Geiger die heimliche Heldin
des Buches, eine poetische Akrobatin, die über Abgründe spaziert und dabei mutig hinunterschaut."
Mit einem Dank an alle Vortragenden und einem Blumenstrauß für die Pianistin
verabschiedete Dieter Körber die Gäste.
Unser nächster literarischer Abend findet statt am
28.Februar 2019, mit dem der allgemein närrischen Zeit ein wenig geschuldeten Thema:
" Literatur, Kabarett und Sketche - ein Feuerwerk der guten Unterhaltung".
Wie immer im KUHtelier, um 19:30 Uhr um auch berufstätigen Interessierten die
Möglichkeit zu geben, von Anfang an dabei sein zu können.
Almut Rose